Die radikale Veränderung: Leben im Augenblick

Gedanken eines Hospizgründers über die letzte Zeit

Joseph Brombach
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Die Begegnung mit Menschen, die nur noch eine kurze Lebenserwartung haben, ist für mich immer wieder erschreckend. Da werden Hoffnungen und Wünsche nicht erfüllt, da platzen Sehnsüchte, da sind Menschen, die resignieren, die auch in eine Depression fallen und Menschen, die sich auflehnen gegen das offensichtlich Unabwendbare. Zu sehen, wie jemand am lebendigen Körper zerfällt, ist ungeheuerlich und auch das Hoffen gegen alle Hoffnung, macht mitunter hilflos. Das Auszuhalten, ist oft schwer.

geralt-pixabay-umbrella-1588167_1920Ich erlebe aber häufig auch andere Situationen bei Menschen im Angesicht des Todes, aus denen ich für mein Leben viel lernen kann und das ist sehr, sehr oft genauso beeindruckend, wie die Erschütterung über die Zerstörung. Ich habe häufig beobachtet, wie Menschen, die nicht mehr flüchten können, plötzlich eine neue Wahrnehmung entwickeln für das, was ihnen noch verbleibt.
Es ist berührend zu erleben, wie Menschen eine Zufriedenheit entwickeln können, die ich manchmal sogar als Glücksgefühl wahrgenommen habe, wenn sie einen Schluck Wasser trinken oder wie über das Antlitz eines Kranken ein Leuchten von Schönheit ging, trotz seiner krankheitsbedingten Verzerrungen, als er sich immer und immer wieder eine Blüte anschaute oder im Schweigen meine Hand hielt und gewissermaßen in sich hin ein lächelte. Er hat im vollen Bewusstsein seiner radikalen Veränderung eine Fähigkeit entwickelt, im Augenblick zu leben. Den Augenblick, jetzt diese kleine Blüte da, jetzt dieser frische Schluck Wasser, jetzt dieses Anschauen Aug in Aug, jetzt die Hand des anderen spüren, jetzt die Vergangenheit vergessen, jetzt spüren, ich bin noch da.
Ich glaube, dass es Sterbenden in einer ganz besonderen Weise geschenkt ist, so intensiv empfinden und leben zu können, weil sie befreit sind davon, ständig ihre Zukunft planen zu müssen oder ständig auf die Vergangenheit hin Versagensgefühle zu erleben. Es wird ihnen dieses „Spielzeug“, die Zukunft zu arrangieren, Sorgen, Ängste, Nöte, Bedenken und Kalkulationen, „dieses Spielzeug“ wird ihnen geradezu aus der Hand geschlagen. Ich habe manchmal die Erfahrung gemacht, dass es für diese Menschen eine Befreiung war, nicht mehr planen zu müssen, wie die nächsten Zinsen bezahlt werden oder nicht mehr Angst zu haben, ob sich diese oder jene Beziehung gut oder schlecht entwickelt oder ob der Arbeitsplatz erhalten bleibt.
Durch die Arbeit im Hospiz und das Zusammensein mit Sterbenden hat sich in mir die Zuversicht gestärkt, mich mehr auf den Augenblick einlassen zu können und mir weniger Sorgen zu machen über das, was in Zukunft auf mich zu kommt. Aus der Erfahrung heraus, dass Menschen Zufriedenheit entwickeln und darüber auch eine innere Ruhe gefunden haben, schöpfe ich auch Mut, beispielsweise meinem eigenen Älterwerden gegenüber eine größere Gelassenheit zu zeigen und auch eine größere Risikobereitschaft einzugehen, mit weniger tausendfachem Kalkül von Absicherungen und Überlegungen.


Quelle: Heide Breitel, Treatment zum Dokumentarfilm: Ins Leben kommen – aus dem Leben gehen, Potsdam-Babelsberg, März 1997, S.14. ED dankt Heide Breitel für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung dieses Textes auf unserer Plattform.

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