Nicht das Trennende hat Bestand, sondern das Verbindende
Gedanken zu Abschied und Werden
Abschied kann aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Hier geht es um das Verbindende in der Trennung.
Die Erkenntnis, dass der Einzelne Teil der Schöpfung, dass er zugleich sterblich und unsterblich ist, weitet das Herz. Jeder Mensch ist besonders und einzigartig, zugleich individuell und universell: Gestalt gewordener Geist. Die Gestalt, die Materie, aus der wir bestehen, löst sich auf, wenn wir sterben und setzt das geistige Energiefeld frei, das unser Wesen ist. Wenn das so ist, dann ist der Tod eine Wandlung, sozusagen das Loslassen der materiellen Existenz zu Gunsten einer immateriellen, die weiter geht. Keiner weiß wohin. Da liegt ein Mysterium.
Die Religionen aller Kulturen haben viel darüber nachgedacht und eine üppige Vielfalt von Jenseitsvorstellungen entwickelt, um dem Unbegreiflichen Gestalt zu geben. Weil wir vergänglich sind und sterben, gibt es Visionen einer anderen Welt. An der Schwelle zum Weltenwechsel vom Dieseits zum Jenseits steht der Abschied. Wir erleben ihn, weil alles vergänglich ist vor dem großen Tod schon in den kleinen Toden im Leben. Damit verbunden ist Trauer. Zu oft fokussieren wir uns auf das Trennende im Abschied. Sein Wert liegt woanders. Während ich einen Menschen, eine Erfahrung loslasse, mich von ihm verabschiede, entfernt er/sie sich von mir, ganz sinnlich, dennoch kann ich innerlich verbunden mit ihm sein, in meinen Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen. Die sind nicht greifbar und kaum messbar. Gerade wenn ein Mensch stirbt und mich verlässt, kann ich erleben, dass in seiner äußeren Form noch etwas ist, das mehr ist als der sichtbare Köper, viel mehr. Es ist sein Wesen, seine Seele, die verwoben ist mit einem Feld universeller Potenzialiät, zu dem auch ich gehöre, das in uns Menschen jeweils individuell erscheint. Ohne den Körper, könnte ich diesen einzigartigen Menschen, den ich liebe, nicht sehen, fühlen, riechen, anfassen. Ich berühre den anderen mit meinen Sinnen und erlebe mehr als das: Begegnung, Kommunikation mit seinem Wesen. Wenn sein Körper stirbt, bleibt der Geschmack seines Wesens. Nicht das Trennende hat Bestand, sondern das Verbindende.
Hermann Hesse drückt das in seinem Roman „Demian“, der autobiographische Züge hat, folgendermaßen aus:
„Jeder Mensch aber ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich, darum ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig. In jedem ist der Geist Gestalt geworden, in jedem leidet die Kreatur, in jedem wird ein Erlöser gekreuzigt.
Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann. Jeder trägt Reste von seiner Geburt, Schleim, Eischalen einer Urwelt, bis zum Ende mit sich hin. Mancher wird niemals Mensch, bleibt Frosch, bleibt Eidechse, bleibt Ameise. Mancher ist oben Mensch und unten Fisch. Aber jeder ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin. Und allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter, wir alle kommen aus demselben Schlunde; aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu. Wir können einander verstehen; aber deuten kann jeder nur sich selbst.“
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