Was kommt danach? Islam-Wissenschaftler Saleh Spiewok antwortet

Beitrag zu unserer Umfrage, wie man sich das Jenseits vorstellt.

Unser Schwerpunkt im Dezember 2016 ist der Begriff „Elysium“, der in diesem Zusammenhang stellvertretend für das Jenseits steht. Wir waren neugierig von vielen Menschen zu erfahren, wie sie sich das Jenseits vorstellen.

saleh-spiewok-portraitSpiewok Saleh (Peter), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Department Islamisch-Religiöse Studien (DIRS) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Ich habe es so verstanden: Im Islam gibt es eine unsterbliche Seele, die sich vom Körper trennt, wenn wir sterben. Wo geht sie hin? Was erlebt sie auf ihrer Reise?

Bis zum weltenvernichtenden jüngsten Tag ruht sie im Grab, das – basierend auf Hadithen[1]Hier handelt es sich um mündliche Überlieferungen, die auf Aussagen oder Taten des Propheten Muhammad zurückgeführt werden. Sie wurden über eine mündliche Überlieferungskette tradiert und ab … Continue reading, der Koran schweigt darüber – den Gläubigen als weit, duftend und als ein Vorgeschmack auf das Paradies, dem Gottfernen [2]Kāfir bedeutet etwa wörtlich „die Wahrheit zudecken“ und steht im Koran als Dichotomie zum Mu´min, dem Gläubigen. Terminologisch wird der Begriff traditionell häufig im Sinne von „nicht … Continue reading dagegen als eng und unangenehm bis qualvoll erscheint. Die Toten hören die Lebenden, aber nicht umgekehrt. Wenn dann der jüngste Tag hereinbricht, werden die Seelen von Engeln aus ihren Gräbern geholt, wieder mit ihren Körpern vereint[3]Dies ist die dominierende sunnitisch-orthodoxe Lesart. Es existieren jedoch auch andere Vorstellungen. und an einem Ort versammelt, wo sie der göttlichen Abrechnung ihres Tuns in ihrem Leben harren. Alle Seelen – nach einigen Überlieferungen der Prophetentradition sind nur die besten Gläubigen davon ausgeschlossen – erleben die Zerstörungskraft und Schrecken des jüngsten Tags mit ihren eigenen Sinnen und sehen das lodernde Höllenfeuer.

Wird die Seele abgeholt?

Ja, dies ist die Aufgabe des im Koran unbenannten Todesengels, der in der Traditionsliteratur als Azrael identifiziert wird.

Gibt es so etwas wie ein Jüngstes Gericht? Welche Bedeutung hat es?

Das Jüngste Gericht spielt im Islam eine zentrale Rolle und ist Gegenstand zahlreicher Koranverse (Bezug zum jüngsten Tag und Jenseits bis zu einem Drittel der Koranverse!). Der Koran nuanciert den jüngsten Tag mit zahlreichen Begriffen, darunter: Tag der Wiedererweckung/der Begegnung/des Gerichts/der Entscheidung, die Stunde oder die Anklopfende.
Dieser „Tag“, über den es im Koran heißt, dass „sein Ausmaß 50000 Jahre betragen“ würde[4]Sure 70, Vers 4, 50 000 Jahre (d. h. ein sehr langer Zeitraum!) kann sowohl auf die herausragende Bedeutung auf den Umfang des jüngsten Tags, als auch auf die Relativität von Zeit bezogen werden, beginnt mit mächtigen Posaunenstößen, welche zuerst alles Leben auslöschen und dann wieder zum Leben erwecken.
In der Folge werden die Seelen der Menschen von Engeln zum Versammlungsort (arabisch: arḍ al-maḥšar) geleitet, wo sie vor Gott über alle ihre Taten, welche sie gegenständlich umgeben, Rechenschaft ablegen müssen.
Schließlich müssen sie sich auf eine Art Brücke, den ṣirāṭ al-mustaqīm, begeben, der für die Menschen je nach Glaubensstärke fein wie ein Haar oder breit und sicher erscheinen wird und die einen in die Feuersglut der Hölle abstürzen und die anderen ins Paradies (al-ğanna) führen wird.

Gibt es eine Wiederauferstehung, die den Kreislauf des Lebens abschließt?

Ja, wie oben beschrieben

Gibt es im Islam Vorstellungen von einem himmlischen Paradies, in das die Seelen eingehen können, in dem sie Allah nahe sind?

Ja, sie spüren dort die göttliche Gegenwart. Nach der Ansicht vieler muslimischer Gelehrter können zumindest die vorbildlichsten Gläubigen dort Gottes Angesicht sehen.

Wer kommt in diese Welt, die frei ist von Leiden?

Hier senden der Koran und die traditionellen Apologeten unterschiedliche Signale:

An vielen Koranstellen werden allgemein Glaube und Rechtschaffenheit als Voraussetzung für den Eingang ins Paradies beschrieben. Über die Juden und Christen wird mehrmals gesagt, dass sie nicht traurig sein müssen und sich vor dem Tag der Wiedererweckung nicht fürchten müssen, wenn sie an Gott und den jüngsten Tag glauben und rechtschaffen handeln.[5]Sure 2, Vers 62; Sure 5, Vers 69

Die Apologeten des Mittelalters haben dagegen – auch in der Auseinandersetzung mit christlichen Apologeten – überwiegend die bis heute unter vielen Muslimen verbreitete Ansicht vertreten: Voraussetzung für den Eintritt ins Paradies sei die Annahme des Islam als institutionalisierte Religion und sei es im Sterbebett, denn entscheidend ist der Glaubenszustand zum Zeitpunkt des Todes. Sie leiten dies aus Koranversen und Hadithen, dem Glaubenskatechismus[6]Demzufolge ist der Glaube an Gott, die Engel, die göttlichen Schriften, die Propheten, den Tag der Wiedererweckung und das Jenseits sowie die göttliche Schicksalsmacht zwingend. ab, welcher Andersgläubige vom Eingang ins Paradies ausschließt.

Die Mehrheit der Sunniten vertritt zudem die Ansicht, dass muslimische Sünder nicht ewig in der Hölle verweilen müssen, während andere Muslime, darunter viele Schiiten, daran glauben, dass schwere Sünden von der Gnade Gottes ausgeschlossen sein können.

Ein häufig von den Apologeten bemühter Koranvers besagt sinngemäß: „Wer nicht im Islam stirbt, von dem wird es nicht angenommen werden“. Dieser Vers wird aber auch dahingehend gedeutet, dass „Islam“ hier wie auch in anderen Koranversen[7]So wird im Koran z. B. über die lange vor Muhammad lebenden Propheten Mose oder Abraham ausgesagt, dass sie „Muslime“ waren. mehr eine aufrichtige Lebenshaltung (Frömmigkeit und Rechtschaffenheit) als die Zugehörigkeit zur institutionalisierten Religion „Islam“ intendiert.

In zahlreichen Koranversen und Hadithen wird betont, dass Frömmigkeit und Rechtschaffenheit mehr bedeuten als das Lippenbekenntnis zu einem institutionalisierten Glauben.[8]z. B Sure 2, Vers 177; Sure 49, Vers 49

Alle Muslime sind sich darüber einig, dass der Eintritt ins Paradies letztlich vom Richtspruch des barmherzigen Gottes abhängt und dass man über niemanden, und das gilt erst recht für sich selbst, sagen kann, dass er in die Hölle oder ins Paradies kommt.

Gibt es neben den Ausführungen im Koran noch verbreitete volkstümliche Vorstellungen von einem Leben in einer „ himmlischen Welt“ ohne Leiden und in Allahs Reich? Können Sie uns ein oder zwei Beispiele nennen?

Viele in ihrer Religion eher wenig gebildete Muslime haben auch als Erwachsene die bunten Bilder im Kopf, die ihnen in ihrer Kindheit über das Paradies erzählt wurden. Doch auch der Koran legitimiert, dass der Phantasie über die Paradiesfreuden keine Grenzen gesetzt sind, indem er betont, dass die Paradiesbewohner alles bekommen, wonach sie verlangen. Das Paradies wird gleichnishaft als ein spirituell-geistiger, reiner aber auch sinnlich genussvoller Ort gezeichnet.

Dem Propheten selbst werden zahlreiche Aussagen über das Paradies mit mythologischem Charakter zugeschrieben, etwa die berühmten 72 Jungfrauen, die auf den Märtyrer (aktives und passives Martyrium) warten. Es gibt Vorstellungen, dass Kinder, die früh verstorben sind, im Paradies als schöne, bunte Vögel durch die Luft schweben.

Im Volksislam und in der Mystik wurden die auch im Koran und der Prophetenüberlieferung recht bunten Beschreibungen über die Paradiesfreuden zu bunten Gemälden ausgestaltet.

Welchen Einfluss haben die Jenseitsvorstellungen des Islam auf das Leben als gläubiger Muslim in unserer Welt?

Richtig (im Sinne des Korans) verstanden, spendet die Hoffnung auf die Glückseligkeit im Jenseits in Krisenzeiten Trost und stärkt die Vorfreude auf das ewige Leben und die Liebe zu Gott. Falsch verstanden, verstärkt sie die Neigung zu Passivität und Weltschmerz.

Richtig (im Sinne des Korans) verstanden, treibt die Furcht vor der ewigen Qual in der Hölle zu einem gottgefälligen Leben und stärkt die Ehrfurcht vor dem Schöpfer. Falsch verstanden, hemmt sie den Glauben und die Selbstverantwortung und reduziert Gott auf seine strafende Seite.

In der gelebten Realität muslimischen Lebens finden sich wohl alle genannten Schattierungen.

Tatsächlich sind aber die meisten Muslime in den meisten Lebensphasen ähnlich diesseitsbezogen wie die Menschen im „Westen“. Der Glaube an das Jenseits tangiert die persönliche Lebensführung über die Achtung der Glaubenspflichten hinaus meiner Erfahrung nach in der Regel nur geringfügig.

Erleichtert der Glauben an den Eingang ins Paradies Ihrer Meinung nach einem Moslem den Umgang mit Sterben und Tod?

Wenn die göttliche Barmherzigkeit und Liebe im Mittelpunkt der persönlichen Gottesbildes stehen und die unerschütterliche Überzeugung überwiegt, dass die Verbindung mit Gott und Rechtschaffenheit der Schlüssel zum Paradies ist, erleichtert der Glaube den Umgang mit Sterben und Tod zweifellos. Dann ist der Tod für den Gläubigen positiv besetzt und die Hoffnung auf den Eingang ins Paradies und die Gottesliebe überwiegen gegenüber der ebenfalls realen Angst vor der Hölle und vor Gott. So werden die Ängste vom Licht des Glaubens überstrahlt.

Wenn der Glaube dagegen auf den strafenden Gott fixiert oder mit nagenden Zweifeln und unterbewussten Ängsten verknüpft ist, können auch psychosomatische Verdrängungsmechanismen im Umgang mit Sterben und Tod auftreten.

Wie stehen Sie zu den Paradiesvorstellungen im Islam?

ersi-pixabay-forest-868715_1920Ich verstehe die verschiedenen Bilder, die über das Paradies gezeichnet werden, als Gleichnisse, welche dem Gläubigen die Lust auf das Paradies und die Sehnsucht nach ihm schmackhaft machen sollen, so dass er sich wie ein kleines Kind auf den Eingang in diese paradiesische Welt freut.

Je nach Gemüt und Lebenssituation kann die Phantasie von geistig- spirituellen Aussagen[9]u. a. heißt es, dass sie  Gottes Angesicht sehen werden, über ihnen wird Frieden, Frieden! gerufen, in ihm gibt es kein leeres Geschwätz, auch das Sinnliche ist geistig-edel, der Wein macht … Continue reading, Beschreibungen der Ruhe und Bequemlichkeit[10]u. a. liegen sich die Gläubigen im Schatten auf bequemen Ruhepolstern in Harmonie in edler Kleidung gegenüber oder Bildern des prallen sinnlichen Lebens[11]u. a. Bäche von Milch und Honig, prächtige Schlösser, schöne Jungfrauen, köstliches Essen und Trinken angeregt werden.

Vor meinem persönlichen inneren Auge erscheint das Paradies als eine hell erleuchtete und friedliche Welt, sei es in Form eines lichten Auwaldes (also keineswegs nur orientalische Landschaften), eines Meeres, das vom Horizont aus erleuchtet wird oder einer romantischen sanften Hügellandschaft mit kristallfarbenen Schlössern.

Die koranischen Bilder inspirieren meine persönliche Phantasie über das ewige Leben im Paradies, ich verstehe sie aber nicht als wörtliche Erscheinungen, an die ich eins zu eins glauben muss.

Ähnliches gilt im Übrigen für die drastischen Beschreibungen der Hölle. Diesen Ort stelle ich mir persönlich als einen manchmal heißen, dann wieder eiskalten schrecklichen Ort voller Einsamkeit und Hilflosigkeit vor.

Haben Sie ein schönes Gebet oder einen schönen Text, vielleicht auch einen Auszug aus dem Koran für uns, der helfen kann dem Tod anstatt mit Angst mit Vertrauen zu begegnen?

Ein Trost besonders für Schwerkranke:

„Oh Allah, lass mich leben, solange das Leben besser für mich ist, und lass mich sterben, wenn der Tod besser für mich ist.“[12]aus der Hadithsammlung von al-Buchārī, die unter Sunniten als die authentischste Sammlung gilt

Wenn jemand stirbt, sagen die Muslime, basierend auf einem Koranvers[13]Sure 2, Vers 156: „Wir gehören Allah und zu IHM kehren wir zurück!“

 

Michael Ziegert
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Eine Antwort

  1. 1. Dezember 2016

    […] Was kommt danach? Islam-Wissenschaftler Saleh Spiewok antwortet […]

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