Bitte keine Buchstaben mehr
Erlebnis eines Hospiz-Leiters mit einem Gast auf dem "Holzweg"
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Frau Findberg lebte in der Kranken-Stube im Hospiz wie ein Mönch in seiner Hütte. Allein mit sich in der weiten Welt des suchenden Geistes. Es war für mich ein Privileg, wenn sie mir durch einen schmalen Spalt staunenden Einblick gewährte in die Schatztruhe ihres geistigen Reichtums. Nicht die in klugen Kommentaren auf- und abgeklärten Residuen der Großen in Literatur, Kunst, Musik, Philosophie und, ach, auch Theologie, wie sie selbst zitierte. Nein – sie legte großen Wert darauf – die eigenen unerledigten, für sie selbst noch zu lösenden, schwelenden Fragen ihrer unvollendeten, schmerzhaften Existenz am Ende ihrer langen Reise anzupacken. In ihrem schweren Rucksack steckten wegtaugliche und noch zu viel beschwerliche Utensilien. Fragen stellen, Antworten verwerfen, nicht nach-denken, sondern selbst entdecken, sich mit großen Philosophen zwar auf den Weg machen, aber selbst die Fährte spuren. „Heideggern“ nannte sie es manchmal, wenn sie sich mit ihm auf „Holzwege“ einließ. So erzählte sie mir zum Beispiel: Für eine mühsam lang durchgehaltene, abgearbeitete und schließlich doch gescheiterte Beziehung auf ihrem Lebensweg fand sie die späte Einsicht: Man muss nicht aus Treue zu sich selbst einen Holzweg unbedingt bis zum Ende gehen. Den leichtfertig allzu oft strapazierten Satz „Der Weg ist das …“ verdrehte sie einmal so herum: „Der Weg ist das Holz – knüppelhart.“ Gerne kokettierte sie mit listig-lustigen Wortspielen: „Auch mein Weg wird immer mehr holzperig!“ – Sinnsuche im Gestrüpp der eigenen Irrungen und Wirrungen ist manchmal wie das Suchen nach der Nadel im Heuhaufen – ein stacheliges Unter-Fangen, kommentierte sie einmal. „Aber die gläubige Gewissheit, die Nadel muss doch irgendwo da sein, habe sie weiter suchen lassen, bis sie in der Erschöpfung ruhig geworden, schließlich vergessen hatte, wonach sie gesucht hatte. Manche nennen das die Weisheit des Loslassens. “
Dennoch: Es war für sie ein geistiger Genuss, sich als Weggefährtin zu wissen, mit den Großen im Pantheon der Sinn-Sucher unterwegs zu sein. Friedrich Nietzsche, Anaximander und andere. Suchen war für sie aber keineswegs nur ein intellektuelles Gesellschaftsspiel, das – zugegebener Maßen – auch. Suchen, hoffentlich noch nicht gefunden zu haben; unterwegs sein, aber hoffentlich noch nicht angekommen sein, mit dem Vorläufigen sich nicht abfinden, neugierig bleiben, auch wenn sie manchmal schon fest überzeugt war, die Antwort bei Hegel oder Hölderlin gefunden zu haben. Wir beide hatten richtig Lust, gemeinsam dem „Anfängergeist“ in Hirn und Herz Platz zu lassen. Sie scheute sich, den naiven von vielen als große Erkenntnis vor sich her getragenen Tröster-Spruch zu wiederholen und für sich gelten lassen zu sollen: Der Tod gehört zum Leben! Nein, Frau Findberg waren alle leichtfüßigen Sinnsprüche sehr suspekt. Dennoch genoss sie es, wenn wir gemeinsam Rilke oder Hölderlin lasen und jeweils eigene Empfindungen, Identitäten und Erinnerungen dazu austauschten – und manchmal auch einfach angenehm dazu schwiegen.
Ich erlebte Frau Findberg als eine sehr selbstbestimmte Frau, die dennoch bei aller Suche mit fraglichem Ausgang und mit überzeugender Echtheit im Ringen um das, was Klarheit im Stimmungswellenspiel bringen sollte, oft hin und her gebeutelt war. Einmal begrüßte sie mich mit „heureka“ und ein andermal mit „tiefer geht’s nimmer“, wenn sie wieder und wieder mit IHM wie Jobs haderte und protestierte: „Warum hast DU mich verlassen?“ und dann gewissermaßen IHN entschuldigend in Schutz nahm: „Wie könnte er denn auch!“ – Eine Frau, die sucht und zweifelt und die mir dann doch mit einem gewissen inneren Glücksgefühl an ihrer unerschütterlichen Überzeugung und ihrem Lebensgefühl teilnehmen ließ: „Im Tiefsten, ganz tief in mir berühre ich mich voller Glück, ich spüre: wie ich bin, so darf ich sein. Vielleicht bin ich so sogar gemeint; aber ganz sicher: ich bin tief geliebt.“ Dann lachte sie glucksend in sich hinein.
Als wir uns zu einem weiteren Resonanzbesuch, so nannte sie manchmal unsere Begegnungen, trafen, empfing sie mich freundlich, aber schweigend. Auf ihrem Antlitz lag etwas für mich ganz Ungewohntes. Wir schwiegen eine ganze Weile. In ihrem Schweigen ließ sie mich wissen: Nun bin ich auf dem Weg; bin ganz nah dran. Dabei schaute sie ahnend und wissend nach draußen, nach irgendwo. Kaum hörbar, um sich nicht selbst zu stören, sagte sie: Danke, mein lieber Gefährte, danke für die gemeinsame Suche. – Nun aber finde ich. Also, bitte, jetzt keine Buchstaben mehr!“
Ich verneigte mich vor ihr und verließ schweigend IHREN RAUM.
Deutlich spüre ich: Frau Findberg hat ihren Mons-Tabor, ihren Berg zum Übergang gefunden und bestiegen. Sie ist offensichtlich mit klarem, oder ganz neuem Bewusstsein dabei, in einen neuen Raum zu wechseln. Dabei durfte ich ein wenig den Saum ihres Gewandes berühren, hinter dem sich ein großes Mysterium anbahnt.
Alle Lebenskonzepte großer Meister voller Dualität, alles Ringen und Suchen und Finden und wieder Verwerfen, alle Philosophien und alle religiösen Vorsagen, alle Sprüche, alles Gesagte und Geschreibse haben für sie ihren Reiz und ihre Botschaft verloren: Mit all dem ließ sie mich im Vor-Raum zurück: Bitte jetzt keine Buchstaben mehr!
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