Der kleine Sprung zwischen Zeit und Ewigkeit
Gretas letzte Stunden
Ich fahre zu einem Möbelmarkt ins Zentrum von Berlin auf der Suche nach einigen Einrichtungsgegenständen. Es ist Samstag; ein heißer Septembertag. Ich quäle mich durch das Straßengewirr, die Knäuels an den Ampeln, die hetzenden Menschen mit Einkaufstüten, bin misslaunig. Da sehe ich Greta vor meinem geistigen Auge, als ich gerade in den Möbelhof einbiege. Mein Bauchgefühl sagt mir: Geh zu ihr! So lenke ich mein Auto ohne nachzudenken um und fahre zu einem großen Berliner Krankenhaus. Mein Ziel ist die Palliativstation.
Greta liegt dort seit wenigen Tagen. Es ging nicht mehr, Sie zuhause zu pflegen. Tapfer hat sie sich acht Jahre lang mit ihrem Brustkrebs herumgeschlagen, etliche Chemotherapien hinter sich gebracht und noch kurz vor ihrem Tod eine Strahlenbehandlung über sich ergehen lassen. Das letzte Lebensjahr ist ihr schwerstes. Etliche Lymphknoten sind entfernt worden. Die Arme sind prall und geschwollen.
Greta organisiert ihren Abschied von dieser Welt, scheinbar cool und systematisch. Sie lebt als Single. Die geliebte Katze übernimmt eine Freundin – eine herzzerreißende Trennung. Persönliche Unterlagen sortiert sie mit exzessiver Gründlichkeit, alles Überflüssige wandert in den Reißwolf – blaue Müllsäcke voller systematisch zerschnitzelter Lebensgeschichte. Am Ende ihres Lebens sind die Akten- und Bücherregale wie leergefegt. Sie verschenkt Haushaltsgeräte, ihre Einrichtung, bereitet die Menschen, die ihr nahe stehen, einfühlsam darauf vor, dass sie bald nicht mehr da sein wird. Auch jetzt, kurz vor ihrem Tod behält sie das Heft in der Hand. Sie hat in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag gefeiert – und sie weiß, dass es ihr letzter ist.
Die letzten Wochen benötigt sie ein Sauerstoffgerät, das hilft beim Atmen. Sie raucht weiter – Kette. Ein Atemzug mit dem Sauerstoff gibt Erleichterung, dann saugt sie wieder an ihrer Zigarette. Es ist schwer zu ertragen für mich, die Freundin, die Nichtraucherin – die bleiche zitternde Greta, das Ringen nach Luft, ihre Selbstzerstörung. Meine Augen tränen, ich kann kaum noch atmen, darf nicht lüften, wegen der Kälte, die dann ins Zimmer kommt. Innerlich aufgebracht, frage ich mit verhaltener Stimme, ob es für sie nicht möglich sei, angesichts der Belastungen für den Körper das Rauchen sein zu lassen? Sie antwortet: Ist es mein Leben oder deins? Du kannst gerne gehen, wenn du es nicht aushältst. Ich bleibe, schnappe auf dem Balkon immer wieder nach Luft und komme dann zurück ans Bett.
Zwei Tage später kommt sie in eine Palliativstation. Ich öffne die Tür zu ihrem Krankenzimmer. Greta liegt entspannt und sehr schwach im Krankenbett, bleich und ganz mager, die Wangen sind eingefallen, das Gesicht sieht ein wenig wächsern aus. Ihre großen braunen Augen schauen unendlich liebevoll in diese Welt. Ihre Zartheit und die stille, friedvolle Atmosphäre in ihrer Nähe rühren mich zu Tränen. Aus dünnen Schläuchen tropft Nährflüssigkeit in ihre Venen.
Hinter dichten weißen Gardinen vor einer großen Fensterfront liegt eine kleine Terrasse mit Rasenstreifen, von Büschen umsäumt. Üppig ist das Grün. Still ist der Raum. Ein Einzelzimmer, geräumig und gut eingerichtet. Dennoch, es riecht nach Krankenhaus.
Du wolltest zu Hause sterben, nicht hier, denke ich. Greta sagt mit schwacher Stimme: „Es ist o.k., dass ich hier bin.“ Sie kann meine Gedanken lesen. Es ist unendlich anstrengend für sie, einen Satz zu formulieren.
Greta öffnet die Augen. Für einen Moment ist sie wieder da. So ist das, wenn Geist und Körper sich trennen wollen. Denken und Sprechen gehen kaum noch zusammen. Greta braucht viel Willenskraft und Disziplin. Beides hatte sie immer in diesem Leben. Ihr Bewusstsein gleitet davon. Ich nehme ihre Hand und streiche sanft über ihre Stirn, neige meinen Kopf, bin dann Wange an Wange innig mit ihr zusammen. Das tut uns gut. Später löse ich mich von Greta und setze mich auf den Stuhl neben das Bett. „Du rauchst nicht mehr“, sage ich leise und ein wenig scherzhaft. „Ja, so weit ist es mit mir gekommen, “ antwortet sie mit einem Schuss Sarkasmus in der gebrochenen Stimme. Ich sitze ruhig, innerlich versunken in die Stimmung von Leichtigkeit und Frieden an ihrer Seite, fühle das Leben, unsere Verbindung. „Ich habe keine Angst vorm Sterben“ haucht sie, und sieht zufrieden aus. Dann schließt sie die Augen, versinkt ins Unbewusste. Ich entdecke, sie hält ein zerrissenes Foto in einer Hand. Es ist eine Fotografie ihres Vaters, die einzige, die sie behalten hat. Die anderen hat der Reißwolf zerstückelt. Nach einer Weile schaut sie kurz auf: „Ich habe es geschafft“, flüstert sie. „Hast du ihm vergeben können?“ frage ich. Es geht um ihren Vater – eine schlimme Geschichte. Mit dem Anflug eines Lächelns antwortet sie: „Ja.“ dann mit kaum vernehmlicher Stimme: „Jetzt kann ich auch mit dem Rauchen aufhören.“ Sie macht mir klar: Sie hört nicht auf zu rauchen, weil sie stirbt, sondern weil sie das, was sie ein Leben lang gequält hat, erlöst hat.
Greta steht an der Schwelle zwischen den Welten und dies mit großer Würde. Klarheit wechselt mit langen Phasen geistiger Zurückgezogenheit. Es ist nichts dabei, was Angst macht. Mitten im Sterbeprozess, hat sie ihr Schicksal angenommen. Das Zimmer ist erfüllt von Frieden und Liebe. Es sind große, wertvolle Augenblicke, die wir noch haben dürfen. Mein Herz sagt: „Es ist in Ordnung, dass Du gehst. Du hast Spuren in mir hinterlassen. Mir bleibt die Erinnerung. Du hast mich gereift.“
Copyright Foto: Lisa Freund
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