Die Liebe und der Tod
Was ist eigentlich Liebe?
„Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, dass er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch“.
(„Wenn Herr K. einen Menschen liebte“ von Bertolt Brecht)
Partneragenturen bedienen das Bedürfnis nach der perfekten Partnerin, dieselbe vielleicht auch. Irgendwann kommt dann die Ernüchterung: Sie/er ist nicht so, wie ich sie/ ihn mir vorgestellt habe. Jetzt könnte eine echte Beziehung beginnen, in der man sich gegenseitig respektiert, erforscht, annimmt, mit dem Menschen umgeht, so wie er/sie ist. Meist kommt es nicht dazu. Eher folgt Enttäuschung, Resignation, die Lust auf die nächste Partnerin, eine, die wirklich so ist, wie ich es will. Das geht lange, auch noch im Alter… Was man dabei vermeidet: einen nahestehenden Menschen anzunehmen, so wie er/sie ist, sich einzulassen, einander wert zu schätzen. Wir verlernen zu lieben sowohl uns selbst als auch andere Menschen und verarmen innerlich. Doch was ist Liebe?
Max Frisch schreibt in seinem Roman „Montauk“: „… manchmal, meine ich sie zu verstehen, die Frauen, und im Anfang gefällt ihnen meine Erfindung, mein Entwurf zu ihrem Wesen; zumindest verwundert es sie, wenn ich in ihnen sehe, was meine Vorgänger nicht gesehen haben. Damit gewinne ich sie überhaupt. … Eine Zeitlang überzeugt es sie, was mir zu ihnen einfällt … Mein Entwurf hat etwas Zwingendes. Wie jedes Orakel. Ich staune dann selber, wie ihr Verhalten bestätigt, was ich geahnt habe. … Ob es mich peinigt oder beseligt, was ich um die geliebte Frau herum erfinde, ist gleichgültig; es muss mich nur überzeugen. Es sind nicht die Frauen, die mich hinters Licht führen; das tue ich selber.“ (Montauk von Max Frisch, Frankfurt 1978, S. 118 f.)
Ja, Projektionen haben etwas Zwingendes. Wenn die Partnerin für ihren Geliebten ein vollkommener Spiegel seiner Projektionen ist, verliebt er sich in sie und umgekehrt. Im Grunde genommen ist diese Liebe, die dann entsteht, eine Produktion zweier Egos, die sich ineinander verweben, sich gegenseitig ihre Erwartungen bestätigen. Die Basis ist nicht Liebe sondern Begehren. Die Frau spiegelt die Wunschvorstellung des Mannes, er spiegelt ihre Erwartungen und beide verlieben sich in ihre Entwürfe, das heißt in sich selbst. Alles andere wird ausgeblendet. Wir idealisieren, fantasieren uns alles mögliche zurecht. Solange dieses fragile Gebilde aufrechterhalten werden kann, und zwar von beiden Seiten, gibt es die Honeymoon-Phase, den extatischen Rausch des Verliebtseins. Von dem Moment an, wo das Objekt der Begierde die Wunschvorstellungen nicht mehr erfüllt, wenn es eigene Wege geht, oder z.B. wenn die Entwürfe eines oder beider Partner sich ändern, weil auch sie vergänglich sind, wie alles in der Welt, beginnt der Niedergang einer solchen Beziehung. Es gibt eine Krise. Warum? Weil Ideale geplatzt sind. Verrückt daran ist, wenn mein Bild vom anderen kollabiert, zerbröselt mein Selbstbild und damit das mühsam erworbene Selbstwertgefühl. Denn es ist nicht die geliebte Person, die versagt, es ist meine Sicht der Dinge, die sich auflöst – oder die des Partners. Wer Schluss macht, ist in der Täterrolle. Der Entwurfzusammenbruch findet in beiden Beteiligten statt. Damit erlischt das Begehren. Und was ist mit der Liebe? Wenn die Herzensverbindung stimmt, wandelt sich die Partnerschaft in ein sanftes Annehmen, ins Erkunden und Respektieren des Anderen, in Freude über ihn, so wie er ist, ins Annehmen, auch der Schattenseiten. Wir erleben, dass Liebe nicht an äußeren Dingen klebt: Das Wesen eines Menschen, seine Seele, ist nicht identisch mit dem Körper, Charaktereigenschaften oder damit, wie er sich als Persönlichkeit darstellt. Wir begegnen uns unbefangen, ohne Masken, müssen uns nicht anstrengen oder bemühen, weil wir nicht hinter einem Ideal herrennen müssen. Wir sind eben, wie wir sind. Das sind glückliche Momente, in denen wir Verbundensein erleben, auf einer tiefen, ergreifenden inneren Ebene. Es öffnet sich das Tor zu einer Liebe ohne Bedingungen, die da ist, und sich selbst genügt. Das fühlt sich an wie Zuhause angekommen sein und beflügelt. Das Zuhause bleibt, auch in den Krisen, die wir erleben.
Miteinander verbunden sein, wenn alles sich auflöst
Wenn Altes sich auflöst, z.B. wenn unsere Entwürfe zerplatzen, und Neuem Platz machen muss, inmitten der Verunsicherung, gibt es leeren Raum. Es sind diese Lücken, in denen die Brüchigkeit der egozentrischen Fixierungen deutlich wird. Jenseits dieser Lücken spitzt sich das Leiden zu, weil wir es festhalten, obwohl wir das Bedürfnis nach Erlösung von den Qualen des sinnlosen Festhaltens überlebter Gedanken und Gefühle haben. In diesen Lücken blitzt manchmal der Raum auf, der hinter den Wolken liegt, die spirituelle Ebene, das Feld unseres unverwundbaren, allumfassenden Potentials. Dies kann überall geschehen, sowohl in der Mediation als auch im alltäglichen Miteinander. Im Feld des Unverwundbaren haben wir die Chance, Projektionen zu erkennen und einen Weg zu wählen, um sie loszulassen. Sind wir in Verbindung mit diesem Raum, etwa in Seelenpartnerschaften, dann spiegeln wir uns nicht unsere Sehnsüchte oder Vorstellungen vom perfekten Partner zurück, die am Körperlichen haften und an den Sinneseindrücken, sondern unsere innere Vollkommenheit. Wir blicken uns in die Augen und spüren Verbundensein, jenseits von Raum und Zeit und doch im Diesseits fühlbar, auf einer tiefen, vielleicht bisher nicht gekannten Ebene. Das sind die Momente jenseits von Projektionen, jenseits des analytischen Verstandes, die in die Tiefe einer Begegnung im Moment führen, rein erfüllend und voller Liebe, die sich selbst genug ist. Wir haften nicht an äußeren Dingen, unseren Erwartungen oder Projektionen, sondern sind verbunden und leben in dieser frischen Energie, in der wir auch Erotik oder Sexualität auf neue Weise erleben können. Sie führt uns insRaum Verbundensein mit allem, ins liebevolle Annehmen von allem, was ist, in die Freude. Wir sind nicht mehr nur auf den Partner fixiert. Nicht der Partner schenkt uns diese Freude. Wir erleben das Geschenk miteinander. Es kommt aus dem spirituellen Raum und ist in uns und um uns herum.
Ich habe erfahren, dass in der Nähe des Todes die Konfrontation mit persönlichen Projektionen, mit Erwartungshaltungen, Hoffnungen und Ängsten sich oft bis ins Unerträgliche zuspitzt. Wir sehen, wie vor unseren Augen Entwürfe, Erwartungshaltungen, Gewohntes sich unerbittlich auflöst. Wir erleben unermessliche Angst, stemmen uns mit aller Kraft gegen den Lauf der Dinge, den wir nicht wahrhaben wollen. Oft wählen wir uns andere, Familienmitglieder, die Ärzte und Pflegekräfte, die Zustände in der Welt als Projektionsfläche, schimpfen über sie. Sie sind schuld, dass die Dinge nicht so laufen, wie wir es gerne hätten. Wir bemerken nicht, gerade jetzt sucht sich die Wahrheit ihren Weg durch das Dickicht der Verdunklungen, Emotionen, Konzepte. Oft ist es für die Betroffenen schwer, dies zu erkennen, da die emotionalen Verstrickungen groß sind. Wir leiden an der Vergänglichkeit der Dinge, wollen Sicherheit, dort wo es keine gibt, und mindestens den Status Quo erhalten. Alles ist im Grunde ganz einfach: Lassen wir unsere Erwartungen, Widerstände, Projektionen los, zerplatzen sie wie Seifenblasen, die sich in den leeren Raum auflösen. Jetzt sind wir unbefleckt und alles darf sein, wie es ist. Entspannung ist wieder möglich. Gefühle und Gedanken erleben wir unverzerrt, so wie sie gerade kommen und gehen. Wir können hinter sie zurücktreten, wie der Himmel, der hinter den Wolken einfach nur als offener, weiter strahlender Raum da ist, ohne sich mit den Wolken zu identifizieren. Er lässt geschehen, ruht in sich, nicht mehr und nicht weniger. In diesem weiten Raum werden auch Gefühle von Trauer, Wut, Neid und Eifersucht erträglich. Wir erleben sie und zugleich ihre Vergänglichkeit. Sie kommen,ergreifen uns,verlassen uns wieder, machen Platz für Neues. Allein das ist schon tröstlich. Eine andere, positive Variante des Erlebens von dem, was vergänglich ist.
Brigitte stirbt
Meist werden wir schmerzlich mit der Vergänglichkeit konfrontiert, wie in diesem Fall: In einem großen Krankenhaus liegt Brigitte, die dem Tod sehr nahe ist, im Bett. Ihr Körper besteht nur noch aus Haut und Knochen, so mager ist sie. Die Wangen sind eingefallen, die Haare ergraut, die Haut ist fahl. Sie ist kaum 40 Jahre alt und sieht aus wie eine Greisin. Auf dem Nachttisch steht ein Foto. Das ist etwa drei Jahre alt. Dort ist eine junge Frau mit üppigen brünetten Haaren auf dem Deck eines Segelbootes in mediterraner Landschaft zu sehen. Ihre Augen blitzen. Sie ist eine Schönheit, sportlich, elegant, fröhlich. Jetzt liegt sie im Krankenbett und kann ihren Mann, der neben ihr sitzt, nicht mehr erkennen, reagiert kaum auf Berührung. Wenn sie die Augen öffnet, geht ihr Blick durch ihn hindurch. Sie kann ihre Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren, muss gewaschen, angezogen, künstlich ernährt werden. Sie wacht für Momente auf, und es sieht so aus, als wolle sie ihrem Mann etwas sagen. Die Lippen bewegen sich, doch die Worte haben keinen Klang. Dann versinkt sie in einen Zustand tiefer Bewusstlosigkeit. Zwischen der Frau auf dem Foto und der Frau im Krankenbett gibt es keinerlei Ähnlichkeit mehr, und doch sind die beiden identisch.
Draußen, bei einer Tasse Tee, sagt ihr Mann voller Trauer: „Ich wage es kaum zu sagen, aber ich weiß oft nicht mehr, ob diese Frau dort im Bett noch meine Frau ist. Ich erkenne sie nicht mehr wieder. Sie war immer so, wie ich mir eine Partnerin fürs Leben vorgestellt habe, meine große Liebe. Jetzt, wenn ich sie sehe, denke ich manchmal: Du bist es nicht mehr. Das begann schon in ihrer Krankheit. Ihre wurde eine Brust amputiert und sie verlor alle Haare auf dem Kopf im Zuge der Chemotherapie. Es war ihr so peinlich und sie war wütend und verzweifelt darüber, wollte nicht, dass ich sie so erlebe, so schwach und hässlich, wie sie sich fühlte. Sie wollte sich nicht mehr von mir streicheln lassen. Ich hab sie kaum noch nackt gesehen und ich hatte Berührungsängste. Auch ich wusste nicht mit der Situation umzugehen. Es gab keine Erotik mehr. Brigitte, du bist die Frau, die ich über alles geliebt habe. Ich erkenne dich nicht mehr. Dafür schäme ich mich so sehr. Dein Leiden bricht mir das Herz. Es schmerzt mich so. Ich möchte dir helfen, aber ich habe nicht das Gefühl, genügend Liebe in mir zu haben, um dich wirklich unterstützen zu können.“ Peter weint bittere Tränen.
Die Kraft der Liebe
Peter möchte so gerne der Stimme seines Herzens folgen. Der Entwurf in seinem Kopf, sein Konzept von Liebe, trägt nicht mehr und er ist verzweifelt. Mit der Zeit folgt er mehr und mehr seinem Herzen, in dem er – trotz der Schwere der Situation – es zulässt, sich zutiefst verbunden mit Brigitte zu fühlen, sich an ihrer Nähe zu erfreuen, ihr Wesen wirklich zu fühlen, die Gemeinsamkeit zu spüren. Das geschieht, wenn er hingebungsvoll, neben ihr sitzend, ihre Hand hält, weint und mit ihr spricht. Er fühlt eine Innigkeit und Wärme im Herzen, die ihn zutiefst erschüttert. Peter ist dabei, sich von der Fixierung auf seine persönlichen Vorstellungen, Erwartungshaltungen und Konzepte zu lösen. Obwohl er Brigitte kaum noch wieder erkennt, berührt er ihren innersten Kern, erlebt ihr Wesen und damit seine eigenes Potenzial. Es ist nicht leicht für ihn, dies zuzulassen. Mitgefühl mit ihr in diesem schweren Leiden nahe der Todesstunde öffnet ihm das Tor zu einer Liebe, die aus einem konzeptfreien Raum kommt. Sein Herz geht auf. Vieles, was er denkt und tut passt nicht mehr in das Konzept lieb gewonnener Gewohnheiten. Peter ist dabei, sich zu ändern. Kurz nach Brigittes Tod treffe ich einen Peter, der sehr traurig ist und viel weint, der aber auch ein Strahlen in den Augen hat, wenn er von seiner Liebe zu seiner Frau erzählt und den letzten innigen Begegnungen ohne Worte. Er ist beglückt über diese Liebe, die etwas Überpersönliches hat, wie er sagt, und für die er sein Herz offen halten möchte.
Loslassen von Konzepten und Projektionen
Konzepte sind Projektionen unseres Egos, an denen wir uns gerne festhalten. Wenn sie kollabieren, werden wir orientierungslos. Wir verlieren unsere Bezugspunkte, Bezugssysteme, fühlen uns hilflos. Das geistige Gerüst für die Beziehungen, die wir eingehen, löst sich auf und damit die Zuordnung unserer Empfindungen. Im Rahmen dieses Bezugspunktsystems definieren wir uns, halten fest, z.B. an einer Vorstellung davon, was für uns Liebe ist – z. B. auf der Beziehungsebene zwischen Mann und Frau. Gerade dann, wenn diese Bezugspunkte sich auflösen, wir unsicheres Terrain betreten, kann es sein, dass etwas von dem spürbar wird, was hinter der äußeren Erscheinung liegt.
Wenn wir das Konzept loslassen und das Greifen danach aufgeben, öffnet sich der Weg aus dem Leiden in das Potential der Liebe. Wir können uns einfühlen in den anderen, und zwar aus der Situation heraus, auf das unsichtbare Band vertrauend, das uns miteinander verknüpft. Wir lassen uns ein, auf das, was ist und erlauben uns zu fühlen, hilflos zu sein, erleben den Zusammenbruch unsere Glaubensmuster. Wir werden wach gerüttelt. Alles fließt, auch die Liebe, eine Energie, die kraftvoll und warm ist wie unzählig viele Sonnen, die das Universum erhellen. Das Leiden ist noch da. Es wird gehalten von unserer Weichheit, der inneren Weite. So können wir uns inmitten der Not gut fühlen, rund. Ein Akt innerer Befreiung. Wenn die Not am größten ist, wie in der obigen Situation, erwacht manchmal eine neue innere Wahrheit in uns. Peter erlebt, dass er diese Frau liebt, obwohl sie nicht seinem Entwurf entspricht. Noch nie waren die beiden so tief miteinander verbunden. In diesem Sinne ist der Tod auch ein Lehrmeister. Eine spirituelle Wahrheit sucht den Weg ins Bewusstsein: Es gibt etwas, das hinter der äußeren Erscheinung liegt, etwas, das liebenswert ist und dessen Strahlung oder Energie rein ist und heil. Der Körper Brigittes zerfällt, etwas Anderes, ihr Geist, ihre Seele löst sich daraus, geht vielleicht in einen Bewusstseinstrom ein. Erleben wir dies, finden wir Trost in der Trauer. Wir wissen, etwas von unserer geliebten Person lebt weiter. Wir sind gereift. In diesem Sinne ist jedes Ende ein neuer Anfang.
Sogyal Rinpoche, Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Barth Verlag
Geshe Thubten Nagwang, Glücklich leben-friedlich sterben, hg.vom Tibetischen Zentrum Hamburg e.V., dharma edition
Christine Longaker, Dem Tod begegnen und Hoffnung finden, Piper-Verlag
Rodney Smith, Die innere Kunst des Lebens und des Sterbens, Arbor Verlag
Steven Levine, Wege durch den Tod, Context Verlag
Steven Levine, Sein lassen, Context Verlag
Gedicht zum Thema
Am Ende meines Weges
Am Ende meines Weges ist ein tiefes Tal,
Ich werde nicht weiter wissen.
Ich werde mich niedersetzen und verzweifelt sein.Ein Vogel wird kommen und über das Tal fliegen,
und ich werde wünschen, ein Vogel zu sein.
Eine Blume wird leuchten jenseits des Abgrundes,
und ich werde wünschen, eine Blume zu sein.
Eine Wolke wird über den Himmel ziehen,
und ich werde eine Wolke sein wollen.Ich werde mich selbst vergessen.
Dann wird mein Herz leicht werden
Wie eine Feder,
Zart wie eine Margerite,
durchsichtig wie der Himmel.Und wenn ich dann aufblicke,
wird das Tal nur ein kleiner Sprung sein
zwischen Zeit und Ewigkeit.Indianische Weisheit
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