André Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Rezension

Eine schon etwas in die Jahre gekommene Erzählung gewährt Einblicke in Kindheit und Jugend eines universalen Künstlers der Moderne, der gerade 70 Jahre geworden ist und auf ein ereignisreiches Leben zurückblicken kann.

Dieses Buch rankt sich um Erfahrungen des Ich-Erzählers aus seiner Jugend, die geprägt ist von der autoritären Erziehung in einer Klosterschule, geführt von Jesuiten – ein Drill vom Strengsten. Der Vater hat das Internat angeordnet. Er war selbst Jude und entkam den Nazis gerade noch. Zahlreiche Familienangehörige fielen dem Holocaust zum Opfer. Der Vater ließ sich von seiner Frau scheiden, damit sie die NS-Zeit in Österreich überleben konnte. Der Sohn, 1947 geboren, soll von vornherein ins moderne Wien der Nachkriegszeit assimiliert werden. Der Vater traut seiner Frau diese Aufgabe nicht zu.

Als der Vater gestorben ist, kommt die Mutter ins Internat und holt den Sohn ins großbürgerliche Zuhause in Wien. Er muss nicht mehr zurück an diesen Ort des Schreckens. Der Tod des Vaters befreit ihn von seinen Peinigern. Das ist die andere Seite der Erzählung.

In weiten Teilen des mit 137 Seiten überschaubaren Textes geht es um das, was der Tod des Vaters auslöst: Erinnerungen, Kindheitserlebnisse des Sohnes – auch Skurriles – werden einprägsam beschrieben. Der Sohn stöbert im Nachlass, wird fündig – eine Entdeckungsreise. Der Vater erscheint nicht nur körperlich als abstoßender Tyrann. Er war auch opiumsüchtig, hatte zahlreiche Affairen, verprasste das Familienerbe, hinterließ einen Schuldenberg.

Es gibt während des pompösen Begräbnisses des Vaters, des Leichenschmauses, der Testamentsverkündung Gespräche mit Verwandten, die aus aller Welt zur Trauerfeier angereist sind. Alles bewegt sich zwischen Sein und Schein. Der wenig geliebte Verstorbene erscheint im Licht der Öffentlichkeit wie ein Held. Doppelmoral beschreibt der Autor in eindrücklicher Sprache, bildhaft und originell ebenso wie den Ablöseprozeß des Sohnes, bei dem der Tod Pate steht.

Die detaillierte Darlegung der Ereignisse im Milieu einer großbürgerlichen Wiener Familie im Grenzbereich zwischen Judentum und Christentum der fünfziger Jahre gibt außergewöhnliche Einblicke in Rituale und Umgangsformen rund um den Tod. Letzterer wirkt wie ein Katalysator.

Die Erzählung besticht durch ihre flüssige, bildhafte, symbolische Sprache. Hineingewebt sind Hellers Lebenserfahrungen. Wer André Heller schätzt, wird dieses Buch lieben. Ich finde es lesenswert – eine Lektüre die inspiriert.


Buch: „Wie ich lernte bei, mir selbst Kind zu sein, Eine Erzählung“
André Heller
S. Fischer, Frankfurt am Main 2008, ISBN978-3-10-03209-0
http://www.fischerverlage.de/buch/9783100302090

 

Lisa Freund
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