Gespenster als Wegweiser
Ein Text von Charles Dickens vorgestellt von Lisa Freund im Oktober 2022
Bald ist Halloween. Aus den Tiefen der Unterwelt kommen die Gespenster hervor, mit denen ein Tänzchen gewagt wird. Manch einer wird selber zum Gespenst. Kostüme gibt es schon im Supermarkt. Hierzu passt gut die Geschichte von Dickens, ein bisschen lang, aber ohoo… Dickens beschreibt darin humorvoll, wie ein Totengräber von den Friedhofsgespenstern umerzogen wird. Und das an Weihnachten. Die Lektion sitzt, wandelt sein Leben nachhaltig. Aus dem mürrischen Leichenwächter wird ein …? Lest selbst. Hierzu passt als Song zum Tanzen und Mitsingen von Michal Jackson Thriller (siehe die Videos im Link) sowie die Songs von Ghostmane, mit dem nicht nur auf Halloween-Parties die Post abgeht.
Die Geschichte von den Gespenstern, die einen Totengräber entführen
In einer alten Klosterstadt in diesem Bezirk unserer Grafschaft wirkte vor langer, langer Zeit – vor so langer Zeit, dass die Geschichte wahr sein muss weil unsere Urahnen schon unbedingt daran glauben – ein gewisser Gabriel Grub als Totengräber auf dem Kirchhof. Daraus, dass ein Mann ein Totengräber und beständig von Sinnbildern der Sterblichkeit umgeben ist, folgt noch keineswegs, dass er ein mürrischer und melancholischer Mann sein muss. Unsere Leichenwärter sind die fröhlichsten Leute von der Welt. Ich hatte einmal die Ehre, mit einem Gehilfen des Totengräbers auf dem vertrautesten Fuße zu stehen. Der war in seinem Privatleben und außer seinem Beruf ein so spaßhafter und jovialer Junge, als je einer ein lustiges Liedchen pfiff, ohne von seinem Gedächtnis verlassen zu werden. Auch leerte er ein gutes, bis an den Rand gefülltes Glas Grog, ohne dass ihm die Puste ausging. Aber trotz alledem war Gabriel Grub ein verdrießlicher, mürrischer, grämlicher Geselle – ein trübsinniger, menschenscheuer Mann, der mit niemandem als mit sich selbst und mit einer alten in Weiden geflochtenen Flasche, die in seiner großen tiefen Westentasche steckte, Umgang hatte. Jedes fröhliche Gesicht, das ihm vorkam, sah er mit einem solch bösartigen und verdrießlichen Blick an, dass man ihm unmöglich begegnen konnte, ohne sich unheimlich berührt zu fühlen.
An einem Weihnachtabend, als es eben zu dämmern begann, schulterte Gabriel seinen Spaten, zündete seine Laterne an und begab sich nach dem alten Kirchhof; denn er musste bis zum nächsten Morgen ein Grab fertigbringen. Da er sich gar nicht gut aufgelegt fühlte, dachte er, es könnte ihn vielleicht ermuntern, wenn er sich sogleich an die Arbeit machte. Als er die gewohnte Straße entlang ging, sah er das lustige Licht des lodernden Feuers durch die alten Fenster schimmern und hörte das laute Gelächter und den fröhlichen Lärm derer, die darum versammelt waren. Er gewahrte die geräuschvollen Vorbereitungen zur Bewillkommnung des folgenden Tages und roch die vielen herrlichen Düfte, die ihm aus den Küchenfenstern entgegenwallten. All das war dem Herzen Gabriels wie Gift und Galle. Scharen von Kindern sprangen aus den Häusern, trippelten über die Straße hinüber und ehe sie noch an der gegenüberstehenden Tür anklopfen konnten, wurden sie von einem Halbdutzend kleiner Lockenköpfe empfangen, die sie umringten. Dann sprangen sie die Treppen hinauf, um den Abend mit Weihnachtsspielen zuzubringen. Gabriel aber lächelte darob grimmig, fasste den Handgriff seines Spatens fester an und dachte an Masern, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten und eine Menge anderer Trostquellen.
In dieser glücklichen Gemütsverfassung schritt Gabriel weiter, die freundlichen Grüße der Nachbarn, die dann und wann an ihm vorbeischritten, mit einem kurzen, mürrischen Knurren erwidernd, bis er in das dunkle Gässchen einbog, das auf den Kirchhof führte.
Nun hatte sich Gabriel nach dem dunklen Gässchen gesehnt, weil es überhaupt ein düsterer, trauriger Platz war, den die Leute aus der Stadt nur am hellen Mittag, wenn die Sonne schien, besuchten. Er war daher nicht wenig entrüstet, als er mitten in diesem Heiligtum, das seit den Tagen des alten Klosters und der geschorenen Mönche das Sarggässchen genannt wurde, eine Kinderstimme ein lustiges Weihnachtslied singen hörte. Als er weiterging und der Stimme näherkam, fand er, dass sie einem kleinen Knaben angehörte, der mit schnellen Schritten das Gässchen hinabeilte, um eine von den kleinen Gesellschaften in der alten Straße zu treffen, und teils zum Privatvergnügen, teils um seine Stimme für das Fest zu üben, aus vollem Halse sang. Gabriel wartete, bis der Knabe herbeikam, drückte ihn dann in eine Ecke und schlug ihm fünf- oder sechsmal die Laterne um den Kopf, nur um ihn dadurch das Modulieren zu lehren, und als der Knabe die Hand an den Kopf hielt und eine ganz andere Weise anstimmte, lachte Gabriel herzlich und trat in den Kirchhof, das Tor hinter sich schließend.
Er legte seinen Rock ab, stellte seine Laterne auf den Boden, stieg in das angefangene Grab und arbeitete wohl eine Stunde lang mit regem Eifer. Aber die Erde war vom Frost gehärtet, und es war nicht so leicht, sie aufzubrechen und hinauszuschaufeln. Obgleich der Mond am Himmel stand, war er kaum erst sichelförmig und warf nur einen matten Schein auf das Grab, das überdies noch im Schatten der Kirche lag. Zu anderer Zeit hätten diese Hindernisse unsern Gabriel Grub sehr verdrossen und mürrisch gemacht, aber es freute ihn so sehr, dem Jungen das Singen vertrieben zu haben, dass er sich über den langsamen Fortgang der Arbeit wenig grämte. Nachdem er sie für diesen Abend vollendet hatte, sah er mit grimmiger Lust in das Grab hinunter und brummte, sein Handwerkszeug zusammenraffend:
Ein hübscher Aufenthalt – ein hübscher Aufenthalt,
Ein wenig Erde nass und kalt;
Am Kopf ein Stein, am Fuß ein Stein,
Ein Schmaus für das Gewürm zu sein!
Ein grasbedecktes Moderbette,
Ein hübscher Ort, an heilger Stätte.
»Ho! ho!« lachte Gabriel Grub, als er sich auf einen niederen Grabstein setzte, auf dem er gewöhnlich ausruhte und seine Weidenflasche hervorzog. »Ein Sarg um Weihnachten – ein Weihnachtssarg. Ho! ho! ho!«
»Ho! ho! ho!« wiederholte eine Stimme dicht neben ihm.
Gabriel hielt, im Begriff, die Weidenflasche an die Lippen zu setzen, erschrocken inne und sah sich rings um. Der Grund des ältesten Grabes um ihn her war nicht stiller und ruhiger als der Kirchhof im blassen Mondlicht. Der kalte Reif funkelte auf den Grabsteinen und blitzte gleich Diamanten auf den Bildhauerarbeiten der alten Kirche. Der harte Schnee kräuselte sich auf dem Boden und breitete sich, eine weiße, glatte Decke, über die dicht verhüllten Grabhügel, dass es den Anschein gewann, als wären es lauter Leichen mit Sterbetüchern umwickelt. Nicht das geringste Geräusch unterbrach die tiefe Stille der feierlichen Szene. Der Schall selbst schien erfroren zu sein, so kalt und ruhig war alles.
»Es war der Widerhall«, sagte Gabriel Grub, die Flasche wieder an seine Lippen setzend.
»Nein, er war es nicht«, antwortete eine tiefe Stimme.
Gabriel sprang auf und blieb vor Bestürzung und Schrecken wie versteinert stehen; denn seine Augen ruhten auf einer Gestalt, die ihm das Blut erstarren machte.
Auf einem aufrechtragenden Grabstein, dicht neben ihm, saß eine seltsame, überirdische Gestalt, und Gabriel fühlte sogleich, dass es kein Wesen von dieser Welt war. Ihre langen, fantastisch aussehenden Beine, die den Boden leicht hätten erreichen können, waren hinaufgezogen und kreuzten sich auf seltsam phantastische Weise. Ihre starken Arme waren nackt und ihre Hände ruhten auf ihren Knien. Auf ihrem kurzen runden Leib trug sie ein eng anliegendes Gewand, das mit kleinen Litzen verziert war, und auf ihrem Rücken hing ein kurzer Mantel; der Kragen war in seltsame Spitzen ausgeschnitten, die dem Gespenst anstatt einer Krause oder eines Halstuchs dienten, und seine Schuhe krümmten sich an den Zehen in lange Hörner. Auf dem Kopfe trug es einen breitkrempigen, zuckerhutförmigen Hut, der mit einer einzigen Feder verziert und mit Reif überzogen war. Das Gespenst sah aus, als säße es schon zwei oder drei Jahrhunderte lang in voller Seelenruhe auf diesem Grabstein. Es war vollkommen still; seine Zunge hing ihm wie zum Spott aus dem Munde heraus. Dabei sah es unsern Gabriel Grub mit einem Grinsen an, wie nur ein Gespenst grinsen kann.
»Es war nicht der Widerhall«, sagte das Gespenst.
Gabriel Grub war wie gelähmt und konnte kein Wort hervorbringen.
»Was habt Ihr hier am Weihnachtabend zu schaffen?« fragte das Gespenst in strengem Ton.
»Ich musste ein Grab machen, Sir«, stammelte Gabriel Grub.
»Welcher Sterbliche wandelt in einer Nacht, wie diese ist, auf Gräbern und Kirchhöfen?« sagte das Gespenst.
»Gabriel Grub! Gabriel Grub!« schrie ein Chor wilder Stimmen, der den Kirchhof zu füllen schien. Gabriel sah sich erschrocken ringsum, er entdeckte nichts.
»Was habt Ihr in dieser Flasche da?« fragte das Gespenst.
»Wacholder, Sir«, erwiderte der Totengräber, heftiger zitternd als je: denn er hatte ihn von den Schmugglern gekauft und dachte, der Fragesteller könnte vielleicht beim Zollamte der Gespenster angestellt sein.
»Wer wird auch in einer Nacht, wie diese ist, allein und auf einem Kirchhof Wacholder trinken?« fragte das Gespenst.
»Gabriel Grub! Gabriel Grub!« riefen die wilden Stimmen wieder. Das Gespenst warf einen boshaften Blick auf den erschrockenen Totengräber und rief dann, seine Stimme erhebend –
»Und wer ist also unser gesetzliches und rechtmäßiges Eigentum?«
Auf diese Frage antwortete der unsichtbare Chor mit einem Gesang, der von einer großen Menschenmenge herzurühren schien, die zum vollen Spiel der alten Kirchenorgel sang – ein Gesang, der wie auf einem sanften Winde zu den Ohren des Totengräbers getragen wurde und wie das leichte, vorüberschwebende Lüftchen hinwegstarb – aber der Refrain war immer der gleiche: »Gabriel Grub! Gabriel Grub!«
Das Gespenst grinste noch unheimlicher als zuvor und sagte:
»Nun, Gabriel, was meinst du dazu?«
Der Totengräber rang nach Atem.
»Was meinst du dazu, Gabriel?« sagte das Gespenst. Dabei zog es die Beine auf den Grabstein hinauf und beschaute die Hörner seiner Schuhe mit einem Wohlgefallen, als hätte es das modernste Paar Stulpenstiefel aus der ganzen Bond-Street.
»’s ist – ’s ist – ganz kurios, Sir«, versetzte der Totengräber halbtot vor Schrecken, »ganz kurios und ganz hübsch: aber ich denke, ich will wieder ans Geschäft gehen und meine Arbeit vollenden, wenn Sie’s erlauben.«
»Arbeit?« sagte das Gespenst, »welche Arbeit?«
»Das Grab, Sir, das Grab«, stammelte der Totengräber.
»Ei, das Grab«, sagte das Gespenst; »wer wird auch Gräber machen und Freude daran finden, wenn alle übrigen Menschenkinder fröhlich sind.«
Und wieder riefen die geheimnisvollen Stimmen: »Gabriel Grub! Gabriel Grub!«
»Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde verlangen nach dir«, sagte das Gespenst, seine Zunge noch weiter herausstreckend als je – und es war eine fürchterliche Zunge – »ich fürchte, Gabriel, meine Freunde verlangen nach dir.«
»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte der schreckensbleiche Totengräber, »das ist nicht wohl möglich, Sir: sie kennen mich nicht, Sir, und ich glaube nicht, dass mich die Herren je gesehen haben, Sir.«
»Da irrt Ihr Euch sehr«, versetzte das Gespenst: »wir kennen den Mann mit dem sauren Blick und dem finsteren Gesicht, der heute Abend die Straße heraufkam und seine boshaften Blicke auf die Kinder warf und dabei sein Grabscheit fester an sich drückte. Wir kennen den Mann, der in missgünstiger Heimtücke den Knaben schlug, weil der Knabe heiter sein konnte und er nicht. Wir kennen ihn, wir kennen ihn.«
Hier schlug das Gespenst ein lautes, gellendes Gelächter an, das der Widerhall zwanzigfach zurückgab, und seine Beine hinaufziehend, stellte es sich auf dem schmalen Rand des Grabsteins auf den Kopf. Oder vielmehr es stellte sich auf die Spitze seiner zuckerhutförmigen Kopfbedeckung und machte dann mit außerordentlicher Gewandtheit einen Purzelbaum, der es gerade vor die Füße des Totengräbers niedersetzte, wo es sich in derjenigen Stellung aufpflanzte, die gewöhnlich die Schneider auf ihrem Arbeitstisch einnehmen.
»Ich – ich – bin untröstlich, dass ich Sie verlassen muss, Sir«, sagte der Totengräber und machte eine Bewegung, sich zu entfernen.
»Uns verlassen?« rief das Gespenst, »Gabriel Grub will uns verlassen. Ho! ho! ho!«
Während das Gespenst also lachte, sah der Totengräber die Fenster der Kirche auf einen Augenblick prachtvoll erleuchtet, als ob das ganze Gebäude in Flammen stände: die Lichter verschwanden, die Orgel ertönte in lieblicher Weise und ganze Trupps von Gespenstern, dem ersten wie aus dem Gesicht herausgeschnitten, wogten in den Kirchhof hinein und begannen über die Grabsteine »Bock zu springen«. Sie hielten keinen Augenblick an, um Atem zu schöpfen, und setzten mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einer nach dem andern über die höchsten Steine hinweg. Das erste Gespenst war ein ausgezeichneter Springer: mit ihm konnte sich kein anderes messen. Sogar in seiner furchtbaren Angst bemerkte der Totengräber unwillkürlich, dass es im Gegensatze zu seinen Freunden, die sich damit begnügten, über gewöhnliche Grabsteine hinwegzusetzen, Familiengewölbe samt ihren eisernen Gittern und allem dazu Gehörigen mit einer Leichtigkeit übersprang, als wären es Meilensteine gewesen.
Schließlich erreichte das Spiel eine betäubende Höhe. Die Orgel spielte schneller und schneller, und die Gespenster sprangen höher und höher, indem sie sich wie Kugeln zusammenballten und über den Boden hin rollten und gleich Federbällen über die Grabsteine wegschnellten. Dem Totengräber wirbelte der Kopf von der Schnelligkeit der Bewegungen, die er sah, und seine Beine wankten unter ihm, als die Geister vor seinen Augen vorüberflogen und der Gespensterkönig plötzlich auf ihn zusprang, ihn am Kragen nahm und mit ihm hinabfuhr.
Als Gabriel Grub wieder Zeit gewann, Atem zu schöpfen, den ihm die Schnelligkeit seiner Hinabfahrt für den Augenblick versagt hatte, sah er sich in einer Art großer Höhle, auf allen Seiten von einer Menge hässlicher, grimmig aussehender Gespenster umringt. In ihrer Mitte saß auf einem erhöhten Sitz sein Freund vom Kirchhof, und neben ihm stand völlig gelähmt Gabriel Grub.
»Eine kalte Nacht«, sagte der König der Gespenster, »eine sehr kalte Nacht. Holt uns ein Gläschen Warmen.«
Auf diesen Befehl verschwanden eilig ein halbes Dutzend dienstbare Geister, die beständig lächelten, sodass unser Gabriel vermutete, es möchten Höflinge sein. Sie kehrten sogleich mit einem Becher flüssigen Feuers zurück und reichten ihn dem König.
»Ah«, sagte das Gespenst, dessen Wangen und Kehle ganz durchsichtig waren, als er die Flamme in sich sog, »das wärmt; reicht Herrn Grub auch einen Becher.«
Der unglückliche Totengräber wendete vergebens ein, es sei ganz gegen seine Gewohnheit, bei Nacht etwas Warmes zu sich zu nehmen: eins von den Gespenstern hielt ihn fest, während ihm ein anderes die lodernde Flüssigkeit in die Kehle goss und die ganze Gesellschaft ein schallendes Gelächter anschlug, als er hustete und keuchte und die Tränen abwischte, die nach dem brennenden Trank seinen Augen entströmten.
»Und nun«, sagte der König, das spitzige Ende seines zuckerhutförmigen Huts auf gauklerartige Weise dem Totengräber ins Auge bohrend, so dass dieser die fürchterlichsten Schmerzen empfand – »und nun zeigt dem Mann des Unmuts und der Verdrossenheit einige von den Gemälden unserer großen Galerie.«
Während das Gespenst also sprach, verzog sich allmählich eine dichte Wolke, die den Hintergrund der Höhle in Dunkel gehüllt hatte. In großer Entfernung wurde ein kleines, sparsam ausgestattetes, aber niedliches und reinliches Gemach sichtbar. Eine Schar kleiner Kinder war um ein helles Feuer versammelt, die ihre Mutter am Kleide zerrte und um ihren Stuhl herumtanzte. Von Zeit zu Zeit erhob sich die Mutter und zog den Fenstervorhang zurück, als ob sie nach einem erwarteten Etwas ausschaue; auf dem Tische stand bereits ein frugales Abendessen, und am Feuer sah man einen Armstuhl. Man hörte Pochen an der Tür, die Mutter öffnete, und die Kinder umringten sie und schlugen vor Freude in die Hände, als ihr Vater eintrat. Er war nass und müde und schüttelte den Schnee von seinen Kleidern, als sich die Kinder um ihn herdrängten und ihm mit geschäftigem Eifer Mantel, Hut, Stock und Handschuhe abnahmen. Als er sich dann vor dem Feuer zum Mahl niedersetzte, kletterten die Kinder auf seine Knie und die Mutter setzte sich neben ihn, und alles schien voll Lust und Freude.
Aber fast unmerklich änderte sich die Szene. Das Zimmer verwandelte sich in ein kleines Schlafgemach, wo das schönste und jüngste Kind in den letzten Zügen lag. Die Rosen seiner Wangen waren verblichen und der Glanz seiner Augen erstorben. Sogar der Totengräber betrachtete es mit einer vorher nie gefühlten noch gekannten Teilnahme, als es verschied. Seine jungen Brüder und Schwestern versammelten sich um sein Bettchen und ergriffen die leblose Hand, die so kalt und schwer war, aber sie schraken vor der Berührung zurück und sahen mit schaudernder Ehrfurcht in das Gesicht des Kindes: denn so ruhig und still es war, und so schön und friedlich es dalag und zu schlummern schien, so sahen sie doch, dass es tot war, und wussten, dass es jetzt als Engel aus einem Himmel voll Pracht und Seligkeit auf sie herniederblickte.
Wieder zog sich die leichte Wolke über das Gemälde und wieder änderte sich die Szene. Vater und Mutter waren jetzt alt und hilflos, und die Zahl der ihrigen hatte sich um mehr als die Hälfte vermindert. Aber Zufriedenheit und Heiterkeit lag auf jedem Gesicht und strahlte aus allen Augen, als sie sich um das Feuer scharten und alte Geschichten aus früheren, vergangenen Tagen erzählten und hörten. Langsam und still sank der Vater ins Grab, und bald darauf folgte ihm die, welche an all seinen Sorgen und Mühen teilgehabt, zur Stätte der Ruhe und des Friedens. Die wenigen, die sie überlebten, knieten an ihrem Grabe und benetzten den Rasen, der es bedeckte, mit Tränen, standen dann auf und entfernten sich traurig und niedergeschlagen, aber nicht mit bitterem Jammergeschrei oder verzweiflungsvollem Wehklagen; denn sie wussten, dass sie sich einst wiederfinden würden. Sie gingen wieder an die Geschäfte des Tages und erlangten die frühere Zufriedenheit und Heiterkeit. Die Wolke lagerte sich auf das Gemälde und entzog es den Blicken des Totengräbers.
»Was sagst du dazu?« fragte das Gespenst, sein breites Gesicht Herrn Gabriel Grub zukehrend.
Gabriel murmelte so etwas wie: »es sei recht hübsch«, und sah ziemlich beschämt drein, als das Gespenst seine feurigen Augen auf ihn heftete.
»Du bist ein jämmerlicher Mensch!« sagte das Gespenst im Ton grenzenloser Verachtung. »Du!« Es schien noch mehr hinzufügen zu wollen, aber der Unwille erstickte seine Stimme. Es hob eins von seinen äußerst geschmeidigen Beinen, schwenkte es über seinem Kopf hin und her, um sich seines Ziels zu versichern und versetzte dann unserm Gabriel einen derben Fußtritt, worauf sogleich sämtliche Gespenster den unglücklichen Totengräber umringten und schonungslos mit den Füßen misshandelten, indem sie die wandellose, feststehende Gewohnheit der Höflinge auf Erden befolgten, die den treten, den der Herr tritt, und erheben, den der Herr erhebt.
»Zeigt ihm noch einige Bilder«, sagte der König der Gespenster.
Bei diesen Worten verschwand die Wolke wieder, und eine reiche schöne Landschaft entfaltete sich vor dem Auge – man sieht noch heutzutage eine halbe Meile von der alten Klosterstadt entfernt eine ähnliche. Die Sonne leuchtete am reinen blauen Himmelszelt; das Wasser funkelte unter ihren Strahlen, und die Bäume erschienen grüner und die Blumen heiterer unter ihrem belebenden Einfluss. Das Wasser schlug plätschernd ans Ufer, die Bäume rauschten im leichten Winde, der durch ihr Laubwerk säuselte, die Vögel sangen auf den Zweigen und die Lerche trillerte hoch in den Lüften ihr Morgenlied. Ja, es war Morgen, ein schöner, duftender Sommermorgen. Das kleinste Blatt, der dünnste Grashalm atmete Leben, die Ameise eilte an ihr Tagewerk; der Schmetterling flatterte spielend in den wärmenden Strahlen der Sonne; Myriaden von Insekten entfalteten ihre durchsichtigen Flügel und freuten sich ihres kurzen, aber glücklichen Daseins, und der Mensch weidete sein Auge an der blühenden Schöpfung, und alles war voll Glanz und Herrlichkeit.
»Du bist ein erbärmlicher Mensch!« sagte der König der Gespenster noch verächtlicher als zuvor.
Und wieder hob der König der Gespenster sein Bein, und wieder sprang er auf die Schultern des Totengräbers, und wieder ahmten die untergebenen Gespenster das Beispiel ihres Oberhauptes nach. Noch vielmal verschwand und erschien die Wolke, und manche Lehre erhielt Gabriel Grub, der mit einer Teilnahme zusah, die nichts zu vermindern imstande war, so sehr ihn auch seine Schultern von den wiederholten Fußtritten der Gespenster schmerzten. Er sah, dass Menschen, die durch saure Arbeit ihr spärliches Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben, heiter und glücklich waren, und dass für die Ungebildetsten das freundliche Gesicht der Natur eine nie versiegende Quelle der Heiterkeit und des Genusses war. Er sah Leute, die in Hülle und Fülle erzogen worden unter Entbehrungen, heiter und über Leiden erhaben blieben. Manch andern von rauerer Art würden die Leiden niedergebeugt haben. Aber sie trugen die Stützen ihres Glücks, ihrer Zufriedenheit und Ruhe in ihrer eigenen Brust. Er sah, dass Weiber, die zartesten und hinfälligsten von allen Geschöpfen Gottes, am häufigsten Kummer, Widerwärtigkeiten und Ungemach überwanden. Er sah, dass der Grund davon in ihnen selbst lag, daraus für sie eine unerschöpfliche Quelle von Liebe und Hingebung floss. Nach alledem sah er, dass Leute wie er, die den Frohsinn und die Heiterkeit der übrigen bekrittelten, das schlechteste Unkraut auf der schönen Erde waren; und alles Gute der Welt gegen das Böse haltend, gelangte er zu dem Schluss, dass es trotz allem eine sehr ordentliche und achtbare Welt sei. Kaum hatte er sich dieses Urteil gebildet, als die Wolke, die das letzte Bild verhüllt hatte, sich auf seine Sinne lagerte und ihn in Schlummer wiegte. Ein Gespenst nach dem andern zerfloss vor seinen Augen, und als das letzte verschwunden war, sank er in Schlaf.
Der Tag war angebrochen, als Gabriel Grub erwachte und seiner ganzen Länge nach auf dem platten Grabstein auf dem Kirchhof lag, und neben ihm die leere Weidenflasche und Rock, Spaten und Laterne – alles vom nächtlichen Reif überzogen. Der Stein, auf dem er das Gespenst hatte sitzen sehen, stand bolzgerade vor ihm, und nicht weit von ihm war das Grab, an dem er am Abend zuvor gearbeitet. Anfangs zweifelte er an der Wirklichkeit dessen, was er erlebt hatte. Aber der stechende Schmerz in seinen Schultern, wenn er aufzustehen versuchte, brachte ihn zur Überzeugung, dass die Fußtritte der Gespenster keine Phantasiebilder waren. Er wurde wieder unschlüssig, als er keine Fußstapfen im Schnee bemerkte, in dem die Gespenster mit den Grabsteinen Bockspringen gespielt hatten. Aber schnell erklärte er sich diesen Umstand, als er sich erinnerte, dass es Geister waren, die keine sichtbaren Eindrücke hinterlassen konnten, Gabriel Grub erhob sich also, so gut es ihm seine Rückenschmerzen erlaubten, und den Reif von seinem Rock schüttelnd, zog er sich an und kehrte sein Gesicht der Stadt zu.
Der er war jetzt ein anderer Mensch und konnte den Gedanken nicht ertragen, an einen Ort zurückzukehren, wo man über seine Reue gespottet und seiner Bekehrung misstraut hatte. Er schwankte einen Augenblick, dann wandte er sich nach einer anderen Seite und verfolgte den nächsten besten Weg, wohin er auch führen mochte, um sein Brot an einem anderen Ort zu suchen.
Laterne, Spaten und Weidenflasche wurden am nämlichen Tag auf dem Kirchhof gefunden. Anfangs stellte man allerlei Vermutungen über das Schicksal des Totengräbers an, aber bald setzte sich der Glaube fest, er sei von den Gespenstern entführt worden. Es fehlte nicht an sehr glaubwürdigen Zeugen, die ihn auf dem Rücken eines kastanienbraunen, einäugigen Rosses, mit dem Hinterteil eines Löwen und dem Schwanz eines Bären, deutlich durch die Luft hatten reiten sehen. Endlich wurde das alles steif und fest geglaubt, und der neue Totengräber pflegte den Neugierigen gegen ein geringes Trinkgeld ein recht ansehnliches Stück von dem Wetterhahn der Kirche zu zeigen, das von dem vorbesagten Pferde auf seiner Luftfahrt zufälligerweise abgestoßen und ein oder zwei Jahre nachher von ihm auf dem Kirchhof gefunden worden war.
Unglücklicherweise wurde der Glaube an diese Geschichte durch die unerwartete Erscheinung Gabriel Grubs selbst erschüttert. Er war jetzt zehn Jahre älter, ein geplagter, von der Gicht heimgesuchter, aber zufriedener Greis, und erzählte seine Geschichte dem Pfarrer und auch dem Bürgermeister. Im Laufe der Zeit wurde sie zur historischen Tatsache erhoben, als die sie noch bis auf diesen Tag gilt. Die aber, die an die Wetterhahngeschichte geglaubt und also ihren Glauben einmal verschwendet hatten, waren nicht so leicht zu bewegen, ihn zum zweiten Male aufs Spiel zu setzen, und so taten sie denn so weise wie sie konnten. Sie zuckten die Achseln, schüttelten die Köpfe und murmelten so etwas, als ob Gabriel Grub den Wacholderschnaps ganz ausgetrunken hätte, dann auf dem platten Grabstein eingeschlafen wäre, und erklärten das, was er in der Gespensterhöhle gesehen haben wollte, dadurch, dass sie sagten: er habe die Welt gesehen und sei durch Erfahrung klüger geworden. Aber diese Ansicht, die nie viele Anhänger zählte, verlor sich allmählich, und die Sache mag sich nun verhalten wie sie will, da Gabriel Grub bis ans Ende seiner Tage von der Gicht heimgesucht wurde, so enthält diese Geschichte wenigstens eine Moral, und wenn sie auch nichts Besseres lehrt, so lehrt sie doch so viel: Wenn ein Mann um Weihnachten trübsinnig ist und für sich trinkt, so wird dadurch sein Befinden nicht im geringsten gebessert, das Getränk mag so gut sein, wie es will, oder sogar noch um viele Grade besser als das, was Gabriel Grub in der Gespensterhöhle sah.
Auszug aus: Charles Dickens: Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs, bekannt als die Pickwick Papers, erster Teil, dreißigstes Kapitel, März 1836 – Okt.1837, deutsche Erstausgabe Verlag J.J.Weber,Leipzig 1839, aus dem Englischen übersetzt von Dr. Carl Kolb
Zum Autor
Charles Dickens wurde am 7.12.1812 in der Nähe von Portsmouth/England als zweites von acht Kindern geboren. Die Familie verschuldet sich, der Vater kommt ins Gefängnis. Charles muss schon früh als Hilfsarbeiter tätig sein, daher besucht er die Schule unregelmäßig. Er wurde 1826 Anwaltsgehilfe und später Parlament-Stenograph. Als Journalist arbeitete er u.a. für den „Morning Chonicle“ Er schrieb Skizzen, die später als die „Pickwick Papers“ in Buchform gedruckt wurden. Durch sie erlangte er Berühmtheit. Dickens heiratete und hatte 10 Kinder mit Cathrine Hogarth, von der er sich 1898 trennte. Er schrieb etliche Romane. Mit 58 Jahren starb Dickens am 9.6.1870 an einem Schlaganfall.
Links:
Mehr Infos zum Autor: https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Dickens
Für die Halloween-Party:
Copyright Fotos: 1. James Qube/Pixabay / 2. Wikipedia
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