„… wie sehr man Gefühlen ausweichen kann.“

Interview mit Barbara Pachl-Eberhart, die ihre Familie verlor, über die Bedeutung des Schreibens in der Trauer

Barbara Pachl-Eberhart veröffentlichte ihr erstes Buch „vier minus drei“ über ihr persönliches Erleben nach dem Unfall-Tod ihres Mannes und ihrer beiden Kinder. Das Buch regte viele Menschen an, sich Gedanken über den Tod und die Trauer zu machen, und wurde im deutschsprachigen Raum ein Bestseller.

Im folgenden Interview haben wir uns auf das Schreiben konzentriert als Teil des Lebens und auch der Trauer.

Liebe Frau Pachl-Eberhart,
der Impuls für Ihr erstes Buch war ein schreckliches Unglück, der Verlust Ihrer Familie. Würden Sie es heute als Fügung sehen, dass Sie dies Erlebnis zum Schreiben gebracht hat? Hat das „Darüber-Schreiben“ Sie als Mensch verändert?

Man hört es so oft: dass jede Krise irgendwie auch eine Chance ist. Ich stehe diesem Satz zwiespältig gegenüber. Warum? Weil er das Leid, das mit jeder Krise einher geht, und auch die Zeit, die man für das Wundenheilen braucht, zu verwischen oder gar zu negieren scheint. Ob eine Krise wirklich auch eine Chance für etwas war, kann nur der Betroffene selber beurteilen – und das oft erst nach langer Zeit. Nun, wo ich das gesagt habe, kann ich bestätigen: Der Tod meiner Familie hat mir ein paar Türen geöffnet – eine davon, eine sehr wichtige, war das Schreiben. Und ja, das Schreiben hat mich verändert. Oder, besser gesagt: Das Schreiben hilft mir bis heute, die zu sein, die ich gerne bin und die ich sein möchte.

Portraitfoto Barbara Pachl-Eberhard

Barbara Pachl-Eberhart
(c) Foto: Nina Goldnagl

Unmittelbar nach dem Unfall haben Sie eine lange Email verfasst und ungefiltert an alle Menschen in Ihrem Adressbuch verschickt. Darin schildern Sie Ihre Empfindungen. Dieser Text war offenbar die Keimzelle für das Buch. Was würde Sie aus heutiger Sicht sagen: Was hat Sie dazu gebracht, nicht einfach Ihre Trauer in sich zu vergraben, sondern mit dieser Email nach außen zu gehen?

Als ich im Krankenhaus auf der Intensivstation bei meinen Kindern wachte, da hat mir eine Freundin ein Buch vorbeigebracht. Es handelte von Nahtoderlebnissen rund um plötzliche Todesfälle und hat mir sehr gut getan. In diesem Buch sprach der Autor (Bernard Jacoby) davon, dass viele Menschen die Straßenseite wechseln, wenn sie Betroffenen begegnen. Dass Menschen Angst haben vor Menschen, denen jemand gestorben ist. Davor wiederum hatte ich Angst: Dass meine Freunde sich zurückziehen würden. Dass man Angst vor mir haben könnte. Dass ich plötzlich alleine sein würde. Deshalb habe ich diese Mail geschrieben. Um zu sagen: „Habt bitte keine Angst vor mir.“ Ich habe in dieser Mail die Wahrheit gesagt: „Ich habe in diesen Tagen auf der Intensivstation nicht nur Schreckliches erlebt. Ich habe auch Dinge erlebt, die mich trösten und über die ich gerne mit Euch reden möchte.“ Nicht zuletzt habe ich mir in dieser Mail auch selber Mut zugesprochen, indem ich mir und meinen Freunden sagte: Es wird weitergehen, ich weiß noch nicht wie, aber irgendwie sicher.

Viele Menschen sind nach dem Verlust wie gelähmt. Gibt es einen „richtigen“ Zeitpunkt, über die eigene Trauer zu schreiben?

Man spürt, wann es der richtige Zeitpunkt ist. Wichtig zu wissen: Nach plötzlichen Todesfällen, die unser Hirn in Schock versetzten, ist unser Sprachzentrum schlecht durchblutet, das hat mit Hirnchemie und automatisch ablaufenden Traumareaktionen zu tun. Es kann also sein, dass man erst einmal (oft über Wochen) keine Worte findet. Es kann aber auch sein, dass man beim Reden sprachlos ist und gerade deshalb zu Papier und Stift greift, weil es da einfacher geht, langsamer gehen darf, weil da Platz für alle Gefühle ist und man niemanden belastet. Viele Menschen würden gerne schreiben, wissen aber nicht wie. Ich habe damals intuitiv die Briefform gewählt, habe Briefe an meinen Mann und meine Kinder im Jenseits geschrieben und mich so mit ihnen verbunden.

Schreiben ist auch ein Akt der Selbstwahrnehmung. Da stehen meine Gedanken und Gefühle „schwarz auf weiß“ auf dem Papier und ich kann ihnen nicht mehr ausweichen. Manche Menschen erleben den Akt des Schreibens als eine Form von Therapie – ist das bei Ihnen auch so?

Nun ja. Sie glauben gar nicht, wie sehr man – auch auf dem Papier! – Gefühlen ausweichen kann. Viele Menschen schreiben jahrelang, ohne dass es wirklich therapeutisch wirkt. Sie schreiben brav auf, was sie erlebt haben, ohne über Gefühle zu schreiben. Oder sie verstricken sich in einem Grundgefühl – oft sind das Selbstzweifel, Ärger oder Schuldgefühle – und finden keinen Weg aus diesem Labyrinth. Um therapeutisch zu wirken, braucht es den mutigen Entschluss, sich schreibend dem zu stellen, was wahrhaftig ist, auch wenn es weh tut. Und immer wieder auch das Zurücktreten, den klaren Blick auf das, was da steht (und das, was eben noch nicht da steht und gern zu Wort kommen würde). Für mich war das Schreiben an meine Familie ein Akt der Selbstfürsorge. Das hat schon etwas mit Therapie zu tun. Am therapeutischsten für mich war die Arbeit mit meinem Verlagslektor, der sehr streng und genau hingeschaut hat auf meinen Text, der mir blinde Flecken gezeigt hat und mich ermutigte, genauer zu erzählen, Dinge auf Papier noch einmal durchzuarbeiten und mich über nichts hinwegzuschummeln. Ich hätte diese Art des Schreibens nicht ohne zusätzliche therapeutische Begleitung geschafft. Schreiben und Therapie haben einander in dieser Zeit sehr befruchtet.

Es ist denkbar, einen Text zu verfassen, damit zufrieden zu sein, und ihn anschließend in einem feierlichen Akt zu verbrennen und in die Luft zu streuen. Wann und warum ist es richtig, einen Text anderen Menschen zum Lesen zu geben, gleich ob als Email oder auch als Buch?

Anna Patsch, eine von mir sehr geschätzte Schreibpädagogin, empfiehlt, nur Texte zu veröffentlichen, die schon „frei schwingen“. Texte, die nicht mehr vor Selbstgerechtigkeit strotzen. Texte, in denen mehrere Gefühle Platz haben – nicht nur Wut, sondern auch Versöhnliches. Nicht nur Trauer, sondern auch Trost. Nicht nur Schuldzuweisung, sondern auch Selbsterkenntnis. Ich halte diesen Rat für wertvoll. Wo Sie vom Verbrennen sprechen: Eine therapeutisch sehr wirksame Art des Schreibens sind „Briefe, die nicht abgeschickt werden“. in diese Briefe kann man alles schreiben, ohne einen Empfänger (und damit auch sich selbst) zu verletzen.

Wie hoch ist der Anteil der Texte, die Sie schreiben, die Sie niemals veröffentlichen – also nur für sich schreiben?

Sehr gering. Mir hilft das Schreiben an und für andere, in meine beste Schreibstimme zu kommen. Wenn ich für andere schreibe, finde ich automatisch in einen liebevollen, offenen, warmherzigen Ton, ich achte mehr auf Kleinigkeiten. Ich mache mich klarer verständlich, ohne Dinge nur anzudeuten, ich erzähle spannender, ich fasse mich kürzer, ich schreibe so, wie auch ich es gerne (wieder) lesen möchte. Man könnte also sagen, ich „benutze“ meine Leser als Katalysator für mein Schreiben. Ja, ich glaube, ich brauche wirklich ein Gegenüber, um das Schreiben in Fluss zu bekommen. Das ist eine Eigenheit von mir.

Haben Sie schon mal Texte verworfen obwohl (oder gerade weil) Sie gut und treffend waren?

Einmal habe ich einen wirklich „guten“ Brief an jemanden geschrieben, auf den ich sehr böse war. Ich habe ihn, ehe ich ihn weggeschickt habe, meinem Mann gezeigt. Er hat mich Gott sei Dank daran gehindert, den Brief wegzuschicken und mich zu einem Telefongespräch ermutigt. Vor vielen Jahren hatte ich einmal einen Konflikt mit einer Kollegin. Wir haben einander über Wochen Emails hin und her geschrieben. Damals habe ich jede dieser Mails vorher einem Freund gezeigt, der Trainer in gewaltfreier Kommunikation war. Was sehr interessant war: Je bessere „Noten“ ich von diesem Freund bekommen habe, je gewaltfreier meine Mails waren, umso mehr haben sie meine Kollegin provoziert. Letztlich sind wir gemeinsam in eine Mediation gegangen. Das hat uns wieder zusammengebracht.

Denken Sie beim Schreiben an Ihre Leser*innen, beispielsweise ob und wie sie den jeweiligen Text verstehen?

Ich kann nicht schreiben, ohne an Leser*innen zu denken. Ja, für mich ist jedes Wort, das ich schreibe, an jemanden gerichtet. Und ich bemühe mich sehr um Verständlichkeit. Ich weiß aber auch, dass man sich nicht immer allen verständlich machen kann. Bei der Arbeit an Büchern finde ich deshalb die Arbeit einer Lektorin so wichtig. Sie ist sozusagen die „Anwältin“ der Leser, die viel weniger wissen als ich selbst. Sie zeigt mir, wo ich mehr erklären muss. Und auch, wo ich langweilig bin, weil etwas für die Leser nicht so wichtig ist wie für mich selbst.

Texte können sehr bewegen – sie können Menschen also auch aus der Spur bringen. Welche Verantwortung haben Autor*innen, die Texte über ihr Leben und eben auch ihre Trauer sowie ihren Schmerz veröffentlichen?

Wenn ein Text einen Menschen tatsächlich aus der Spur bringt, dann sollte der Autor stolz auf sich sein! Das ist doch das Tollste, was einem Text gelingen kann: dass er der Leserin neue Gedanken, neue Gefühle, neue Sichtweisen schenkt und sie aus ihrer unbewussten Spur herausholt. Leser zu überfordern, das ist gar nicht so leicht, denn die meisten Leser legen Bücher, die ihnen nicht gut tun, einfach weg. Die Kunst liegt darin, ausreichend zu bestätigen und dann doch ein wenig zum Weiterdenken zu bewegen. Verantwortung haben wir als (Sachbuch-)Autoren da, wo wir Menschen zu sehr in destruktiven, Leid stiftenden Spuren bestätigen. Trauerbücher, die vor Selbstmitleid und Depression strotzen, gibt es leider viele. Ich wollte nach dem Tod meiner Familie so gerne ermutigende Biographien lesen, habe aber damals keine gefunden. So musste ich sie mir selber schreiben. Inzwischen, seit „Vier minus drei“ erschienen ist, hat sich am Buchmarkt viel getan. Es gibt inzwischen viele ermutigende biographische Bücher über Tod, Krankheit und Trauer.

Wie ist die Bedeutung der Form, wie wichtig ist es, dass ein Text „gut geschrieben“ ist?

Ich habe selbst erlebt, wie die Arbeit an der Form, an einem „guten“ Stil den Inhalt des Textes beeinflusst. Gut schreiben, im biographischen Schreiben,  bedeutet nicht, elegante Worte zu finden, komplizierte Sätze zu formulieren oder durch besonders originelle Metaphern aufzufallen. Gut heißt vielmehr: wahrhaftig, so einfach wie möglich. Beispiele statt Pauschalaussagen. Logische Folgen statt durcheinander. Erzählen, was wirklich war, außen und innen. Die Fragen der Leser erspüren und redlich beantworten. Wenn man diesen Richtlinien folgt, wird ein Text zu einem guten Freund – für die Leser, aber auch für einen selbst, während man schreibt.

Wie persönlich darf, soll ein/e Autor*in werden? Wie findet er oder sie die persönliche Grenze zu jenen Bereichen des Fühlens und Seins, die sonst niemand erfahren muss?

Mein Lektor hat mit ein paar Stellen aus meinem ersten Entwurf rausgestrichen. Er hat mich gefragt: „Was haben Sie davon, wenn das alle wissen?“ Viele Anfänger (wie auch ich es damals war) unterliegen einem Fehler: Sie glauben, dass man sie wirklich versteht, wenn sie nur „alles“ erzählen. Was sie übersehen: „Alles“ kann man ja gar nie erzählen, nicht einmal auf 600 Buchseiten. Leser müssen immer viel dazu spekulieren. Und es gibt Dinge, die wir erzählen, um uns verständlich zu machen, die aber Leser auf eine falsche Fährte locken. Ein Beispiel (sehen Sie, jetzt denke ich gerade meine Leser*innen mit, die sich vielleicht fragen: Wie meint sie das genau?): Wenn jemand über den Tod seiner Frau schreibt und „ehrlich“ erzählt, dass die beiden drei Tage vor dem Tod gestritten haben – obwohl die Beziehung eigentlich eine ganz tolle war, dann beginnt der Leser an der Qualität der Beziehung zu zweifeln und wird das ganze weitere Buch mit dieser zweifelnden Brille lesen. Wenn der Streit untypisch und auch für den Trauernden nicht bestimmend für seinen Trauerprozess war, muss man in einem Buch nicht davon erzählen. (Nein, es ist nicht meine Geschichte, die ich hier erzähle. In meinem Fall war es zum Beispiel das schwierige Verhältnis mit meinen Schwiegereltern, das im Buch einfach zu weit geführt und nichts zum Wesentlichen beigetragen hätte).

Wenn ein Text veröffentlicht ist, so lässt er sich nicht „zurückrufen“  Er ist in der Welt. Haben Sie es schon mal erlebt, dass Sie einzelne Passagen nachträglich bedauert und bereut haben?

Einzelne Passagen habe ich nicht bedauert, nein. Ich wurde auch nie für einzelne Passagen kritisiert, sondern wenn, dann pauschal, in meiner Haltung zum Tod und vor allem dafür, dass ich mich so bald wieder neu verliebt habe. Ein paar Mal habe ich auf Amazon öffentlich mit Kritikern diskutiert, die sich sogar zum Teil geöffnet und nach unserer Auseinandersetzung mehr verstanden haben. Einer Trauerlobby aus Linz, die mich sehr scharf verurteilt, habe ich ein gemeinsames Interview vorgeschlagen, sie haben mein Angebot leider nicht angenommen. Grundsätzlich denke ich schon, dass man ein Manuskript lange liegen lassen sollte, ehe man es veröffentlicht. Oder es alternativ einem klugen Lektor zu lesen gibt, der – gerade im biographischen Bereich! – eben auch auf die „Gefahren“ einzelner Textstellen achtet.

In Ihrem Buch „vier minus drei“ schreiben Sie von einer Freundin, die Ihnen zahllose Briefe geschickt hat mit der Anmerkung, dass es nur Gedanken zu ihrer eigenen Trauer seien – Sie also nicht antworten müssten.
Ist es fair gegenüber einem Menschen, der trauert, Texte über die eigene Trauer zu schicken?

Ha, gute Frage! Die Briefe meiner Freundin waren für mich eine sehr liebe Geste, vor allem, weil sie keine Antwort verlangte. Wenn man einem Trauernden von eigener Trauer erzählt, sollte man sich erstens fragen: Warum tue ich das wirklich? Und sich zweitens eine gute Dosis überlegen. Weniger ist da oft mehr. Ich selbst habe in den letzten Jahren viele, viel zu viele Trauergeschichten anderer Menschen zu lesen bekommen. Die Mails beginnen meistens mit: „Ich fühle mich Ihnen so nahe, ich will Ihnen nun auch von mir erzählen.“ Ich habe solche Mails nie als böse Absicht, aber fast immer als Grenzüberschreitung empfunden. Es ist heikel. Egal, was man sagt, es wirkt immer so, als könnte man nur alles falsch machen, wenn man Trauernde trösten will. Zu viel schreiben ist schlecht. Gar nichts schreiben ist auch schlecht. Das Falsche schreiben ist ganz schlecht … Die Lösung heißt: Dialog. Kleine Versuche und Angebote machen. Und fragen: Tut Dir das gut? Möchtest Du mehr davon? Oder etwas Anderes?

Ihr Buch „Vier minus drei“ beginnt mit der Frage: Womit soll ich anfangen?
Welchen Rat würden Sie heute Menschen geben, die auf das berüchtigte leere Blatt Papier schauen und nicht wissen, wie sie einen Anfang finden können?

Es beginnt nicht mit dem ersten Wort. Sondern mit einem Gegenüber, an das man sich wendet. Es gibt viele Varianten eines Gegenübers. Man kann an Verstorbene schreiben. An Gott. An sich selbst. An ein „Liebes Ohr, das mich hört“. An den Tod. An sich selbst in einem Jahr. An die eigene Verzweiflung. An die eigene Hoffnung. Sobald man weiß, an wen man schreibt, findet sich das erste Wort wie von selbst – und nicht nur das erste.

Liebe Frau Pachl-Eberhart, vielen Dank für das Gespräch.

 


 

Barbara Pachl-Eberhart, hat in der Folge drei weitere Bücher geschrieben, sowohl von persönlichen Erlebnissen wie auch über das Schreiben selbst. Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Federleicht – die kreative Schreibwerkstatt“. Seit einigen Jahren leitet sie regelmäßig literarische Schreibwerkstätten. Weitere Informationen finden Sie unter:

www.barbara-pachl-eberhart.at

 

Michael Ziegert
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