Der Tod und das kleine Mädchen

Ein Märchen von Frank Kyber

Manfred Kyber (1.3.1880 -10.3.1933) hatte vielfältige Talente. Er wirkte als deutschsprachiger Schriftsteller, Lyriker, Theaterkritiker, Journalist, Lektor und Übersetzer wuchs in Livland als Sohn eines baltischen Gutsbesitzers auf. Er lernte 1911 Rudolf Steiner kennen, schloss sich der anthroposophischen Bewegung an, zog nach Stuttgart, ab 1923 nach Löwenstein und widmete sich dem Tierschutz. Er war ein engagierter Tierversuchsgegner und wurde bekannt durch seine Tiergeschichten. Der Tod und das kleine Mädchen begegnen sich in diesem Märchen freundschaftlich.

Wir haben einen Link zu einer Komposition von Franz Schubert mit fast dem gleichen Titel für Sie unter dem Märchen geschaltet, der, wie wir denken, zum Text passt. Was meinen Sie?

 

Der Tod und das kleine Mädchen

fotoworkshop4y_ou-pixabay-tombstone-1558671_1920Es war einmal ein kleines Mädchen, das war immer sehr einsam. Es sei ein sonderbares Kind, sagten die Großen und es sei dumm und es vertrage keinen Lärm, sagten die Kleinen – und darum spielte niemand mit ihm. Ihr werdet nun gewiss denken, dass das sehr langweilig und sehr traurig für das kleine Mädchen war. Ein bisschen traurig war es manchmal schon, aber langweilig war es gar nicht, denn das kleine Mädchen langweilte sich niemals. Es kamen immer so viele Gedanken zu ihm zu Besuch und diese Gedanken sah es auch alle und sprach mit ihnen, als ob sie leibhaftig vor ihm stünden. Es war eine Sprache ohne Worte und diese Sprache kennen alle, zu denen die Gedanken zum Besuch kommen.

Die Gedanken, die zu dem kleinen Mädchen kamen, waren alle sehr verschieden und sie waren auch ganz verschieden angezogen, wenn man das von einem Gedanken überhaupt sagen kann. Es waren traurige darunter in grauen Kleidern, frohe in rosenfarbenen mit goldenen Sternen darauf, rote und lustige, die Fratzen machten, und blaue, die von Märchenländern erzählten und deren Augen immer irgendwo hinaus in eine weite Ferne sahen.

Es muss sehr still um einen herum sein, wenn so viele Gedanken zu einem zum Besuch kommen. Darum ging das kleine Mädchen am liebsten ganz allein auf den Dorffriedhof und setzte sich zwischen alle die Gräber unter den hohen Bäumen. Das kleine Mädchen kannte alle die Gräber mit Namen und es war wirklich merkwürdig zu beobachten, welche Gedanken an den verschiedenen Gräbern zum Besuch kamen und an welchen Gräbern die Gedanken fort blieben. Es war, als ob es ihnen da nicht recht gefiele.

Lehrreich und unterhaltend war es auch, was die Gedanken an dem einen oder anderen Grabe sagten, wenn sie zum Besuch kamen. Was sie sagten, war nicht immer schmeichelhaft für die Toten in den Gräbern. Aber das kleine Mädchen konnte daraus sehen, an welchen Gräbern man am besten sitzen und sich mit seinen Gedanken unterhalten konnte.

Als nun das kleine Mädchen wieder einmal auf dem Friedhof saß und sich von seinen bunten Gedanken besuchen ließ, da kam eine Gestalt im schwarzen Gewande durch alle die Grabhügel geschritten und ging gerade auf das kleine Mädchen zu. »Bist du auch ein Gedanke?«, fragte das kleine Mädchen. »Aber du bist so sehr viel größer als die Gedanken, die mich sonst besuchen, und du bist so schön, wie keiner von meinen vielen Gedanken es jemals war.« Die schöne Gestalt im schwarzen Gewand setzte sich neben das kleine Mädchen.

»Du fragst ein bisschen viel auf einmal. Ich bin wohl ein Gedanke – und doch wieder auch etwas mehr. Es ist für mich gar nicht so leicht, dir das zu erklären. Sonst täte ich es gewiss gerne.« – »Bemühe dich nicht meinetwegen«, sagte das kleine Mädchen, »ich brauche dich gar nicht zu verstehen. Es ist auch sehr schön, dich bloß anzusehen. Aber ich möchte gerne wissen, wie du heißt. Meine Gedanken sagen mir immer alle, wie sie heißen, und das ist sehr lustig.«

»Ich bin der Tod«, sagte die schöne Gestalt und sah das kleine Mädchen sehr freundlich an. Man musste Vertrauen zum Tod haben, wenn man ihm in die Augen sah, denn es waren schöne und gute Augen, die der Tod hatte. Solche Augen hatte das kleine Mädchen noch nicht gesehen. Das kleine Mädchen erschrak auch gar nicht. Es war nur sehr erstaunt und überrascht und fast freute es sich, dass es so ruhig neben dem Tod sitzen konnte.

hans-pixabay-pebbles-1090506_1920»Weißt du«, sagte es, »es ist so komisch, dass alle Menschen Angst haben, wenn sie von dir sprechen, wo du so nett bist. Ich möchte gerne mit dir spielen. Es spielt sonst niemand mit mir.« Da spielte der Tod mit dem kleinen Mädchen – wie zwei Kinder miteinander spielen, mitten unter den Gräbern auf dem Friedhof. »Wir wollen Himmel und Erde bauen«, sagte das kleine Mädchen, »hoffentlich verstehst du es auch. Wir machen den Himmel aus den hellen Kieseln und die Erde aus den dunklen. Du musst aber fleißig Steine suchen.«

Der Tod suchte kleine Steine zusammen und er gab sich viele Mühe, um das kleine Mädchen zufriedenzustellen. »Jetzt haben wir genug«, sagte das kleine Mädchen. »Ich finde, dass du sehr schön spielen kannst. Willst du nun den Himmel bauen und ich die Erde oder umgekehrt? Mir ist es einerlei. Du kannst dir aussuchen, was dir mehr Spaß macht. Ich erlaube es dir.« – »Ich danke dir sehr«, sagte der Tod, »aber siehst du, ich bin kein Kind mehr und verstehe nicht mehr so zu bauen, wie man das als Kind versteht. Du bist ja noch ein Kind und ich denke, du baust dir deinen Himmel und deine Erde selber. Aber ich will dir bei beidem helfen.«

»Das ist nett von dir«, sagte das kleine Mädchen und baute sich seinen Himmel und seine Erde aus den bunten Kieselsteinen. Der Tod sah zu und half dem kleinen Mädchen dabei. »Jetzt pass auf«, sagte das kleine Mädchen, »hier ist der Himmel und drin wohnt der liebe Gott und hier ist die Erde und da wohne ich. Nun musst du auch noch eine Wohnung haben. Aber ich weiß ja noch gar nicht, wo du wohnst?«

»Ich wohne zwischen Himmel und Erde«, sagte der Tod, »denn ich muss ja die Menschenseelen von der Erde zum Himmel führen.« – »Richtig«, sagte das kleine Mädchen, »dann kriegst du eine Wohnung aus hellen und dunklen Steinen zusammen. Es soll eine feine Wohnung werden, du wirst schon sehen.« Der Tod freute sich und sah zu, wie das kleine Mädchen ihm seine Wohnung baute. »Höre mal«, sagte das kleine Mädchen, »du hast doch eben gesagt, dass du die Menschenseelen von der Erde zum Himmel führst. Erzähle mir mal ein bisschen davon, wie du das machst – und warum müssen wir überhaupt sterben? Kann man denn nicht einfach in den Himmel ‚rüberlaufen?« Als das kleine Mädchen das fragte, läuteten die Glocken Feierabend.

»Hörst du die Glocken läuten?«, fragte der Tod. »Siehst du, mit den Menschenseelen ist das ganz ähnlich wie mit den Glocken. Jede Menschenseele ist eine Glocke und du hörst sie läuten, wenn du ordentlich aufpasst, in frohen und in traurigen Stunden. Bei manchen läutet sie nur noch ganz schwach und das ist dann wirklich sehr schlimm. Wenn ich nun zu einem Menschen komme, dann läutet seine Glockenseele Feierabend – und ich hänge die Glocke dann in den Himmel. Dort läutet sie weiter.«

»Läuten sie denn da alle durcheinander?«, fragte das kleine Mädchen. »Das muss gar nicht schön klingen, denn jede läutet doch sicher ganz anders. Es ist gewiss nicht angenehm für den lieben Gott, sich das immer anhören zu müssen.« – »Das ist schon wahr«, sagte der Tod, »aber siehst du, die Glockenseelen kommen so oft auf die Erde zurück und werden so lange umgegossen, bis sie alle ihr eigenes richtiges Geläute haben und alle zusammenklingen. So lange aber muss ich die Menschen von der Erde zum Himmel tragen.«

»Das tut mir sehr leid für dich«, sagte das kleine Mädchen, »es ist gewiss eine sehr mühsame Arbeit. Aber pass nur auf, es wird schon mal besser werden und dann hast du gar nichts mehr zu tun und wir beide spielen immer so nett zusammen wie heute.« Der Tod nickte und seine Augen sahen in eine sehr, sehr weite Ferne.

»Deine Wohnung ist jetzt fertig«, sagte das kleine Mädchen, »ist sie nicht sehr hübsch geworden?« – »Sie ist sehr hübsch«, sagte der Tod, »ich danke dir auch. Aber es ist spät und du musst jetzt nach Hause gehen. Es war schön, mit dir zu spielen.« Und der Tod reichte dem kleinen Mädchen die Hand. »Guten Abend«, sagte das kleine Mädchen und knickste, »kommst du nicht auch einmal mich besuchen? Ich bin so viel allein.« – »Ja«, sagte der Tod freundlich, »ich werde dich sehr bald besuchen, weil du so allein bist.«

Bald darauf wurde das kleine Mädchen sehr krank und die Leute meinten alle, dass es wohl sterben müsse. Die Leute waren traurig, denn es erschien ihnen immer traurig, wenn einer starb – und besonders wenn es ein Kind war, das das Leben noch vor sich hatte, wie sie sagten. Aber es war ja ein sonderbares Kind, das die Großen nicht verstanden und mit dem die Kleinen nicht spielen mochten. Am Ende war es so auch besser.

Als die Glocken Feierabend läuteten, da trat der Tod zu dem kleinen Mädchen ins Zimmer. »Das ist nett von dir, dass du mich besuchen kommst«, sagte das kleine Mädchen. »Es ist Feierabend«, sagte der Tod und setzte sich zu dem kleinen Mädchen aufs Bett. »Ach ja«, sagte das kleine Mädchen, »davon hast du mir damals so schön erzählt, als wir zusammen Himmel und Erde bauten. Dann kommst du gewiss, um meine Glockenseele zu holen. Hoffentlich klingt sie aber auch hübsch, so dass sich der liebe Gott nicht ärgert.«

»Sie sehnen sich im Himmel nach einer reinen Glocke«, sagte der Tod, »darum haben sie mich gebeten, zu dir zu kommen.« – »Muss ich dann sterben?«, fragte das kleine Mädchen. »Das brauchst du gar nicht so zu nennen«, sagte der Tod. »Siehst du, es ist ganz einfach: An deiner Tür stehen zwei Engel und die führen dich dann zum lieben Gott in den Himmel.« – »Ich kann aber die Engel nicht sehen«, sagte das kleine Mädchen. »Ich werde dich mal auf den Arm nehmen«, sagte der Tod, »dann wirst du die Engel gleich sehen.«

karigamb08-pixabay-cemetery-1655378_1920Da nahm der Tod das kleine Mädchen auf die Arme – und als er es auf die Arme genommen hatte, da sah es zwei strahlende Engel in weißen Kleidern mit schimmernden Flügeln und die Engel führten es zum lieben Gott in den Himmel. Die Glockenseele des kleinen Mädchens aber läutete und es war lange her, dass eine so reine Glocke oben ihren Feierabend geläutet hatte.

Im Himmel war es sehr schön und da war das kleine Mädchen kein sonderbares Kind mehr, denn die großen Engel verstanden es und die kleinen Engel spielten mit ihm. Auch der liebe Gott war zufrieden und freute sich, dass er eine so reine Glocke bekommen hatte. Das kleine Mädchen fand es nur sehr traurig, dass der Tod unten auf der Erde bleiben musste. Es sah ihn auf dem Friedhof stehen, wenn es mal herunterguckte und dann nickte es ihm zu.

»Kannst du hören, wenn ich von oben ‚runterrufe?«, fragte das kleine Mädchen. »Ja«, sagte der Tod, »du brauchst auch nicht so laut zu rufen, denn für mich sind Himmel und Erde so nahe beieinander, wie wir sie einmal zusammen aus Kieselsteinen gebaut haben.« – »Das freut mich«, sagte das kleine Mädchen, »es ist bloß sehr schade, dass ich nicht mehr mit dir spielen kann. Jetzt spielt niemand mehr mit dir. Sei bloß nicht zu traurig darüber. Hörst du?«

»Es war schön, dass du mit mir gespielt hast«, sagte der Tod, »und wenn ich einmal traurig werde, dann höre ich oben deine Glockenseele läuten und freue mich darüber, dass einmal ein Kind mit mir gespielt hat.« – »Ja, tue das«, sagte das kleine Mädchen, »und ich will dir auch etwas Wunderhübsches sagen, was mir die großen Engel erzählt haben. Die großen Engel sagen, dass einmal eine Zeit kommen wird, wo alle Glockenseelen zusammenklingen und alle Menschen mit dem Tod wie die Kinder spielen werden.«


Quelle: Manfred Kyber, Märchen, Stuttgart, Heilbronn 1921, Walter Seifert Verlag

Dazu:

Der Tod und das Mädchen von Franz Schubert (1797-1828)

Streichquartett Nr.14 in d-Moll von Franz Schubert, komponiert 1824; gespielt vom Quartett of Strings; Dauer ca. 45 Minuten. Schubert schuf dieses Werk, als er schon schwer erkrankt und dem Tode nahe war. Er lebte meist in Wien, gilt als Vertreter der frühen Romantik und wurde zu Lebzeiten wenig anerkannt. Er ist seit 1888 auf dem Wiener Zentralfriedhof begraben.

Lisa Freund
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Eine Antwort

  1. 1. Dezember 2016

    […] Der Tod und das kleine Mädchen […]

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