„Ich lasse mich berühren, behalte aber den Boden unter den Füßen“

Interview mit der Hebamme und Bestatterin Clarissa Schwarz

Clarissa Schwarz arbeitet heute als Hebamme, Bestatterin und Achtsamkeitslehrerin, eine ungewöhnliche Mischung und eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Sie bestattet überwiegend Babys und ist für die Eltern da. Da sie selbst Mutter eines Sternenkindes ist, weiß sie, es gibt keinen Trost. Clarissa möchte dazu beitragen, dass die Eltern innerlich gestärkt aus dem Abschied hervorgehen. Bei Charon in Berlin www.charon.de – dem Unternehmen der Familie –  ist sie tätig. Sie widmet sich ihrer außergewöhnlichen Aufgabe mit ganzem Herzen.

clarissa-schwarzWieso hast du dich entschieden Bestatterin zu werden. Wann war das? 

Ich bin im Erstberuf Hebamme. Während der Ausbildung wurde in meinem ersten Nachtdienst im Kreißsaal (im Jahr 1980) ein totes Kind geboren. Dies war eine prägende Erfahrung für mich, bei der ich das Glück hatte, unglaublich gute Vorbilder zu haben. Die Begleitung verwaister Mütter und die Versorgung toter Babys war immer ein wichtiger Teil meiner Hebammentätigkeit. Nach 13 Jahren an Hochschulen, zuletzt als Professorin eines Hebammenstudiengangs, bin ich seit 2013 wieder in Berlin freiberuflich tätig. Ich stehe nun nicht nur als Hebamme sondern auch als Bestatterin zur Verfügung, wenn ein Baby gestorben ist. Viele Frauen melden sich, wenn sie wieder schwanger sind und ich begleite dann die Frau und ihre Familie während dieser Folgeschwangerschaft.

Wie stehst du heute zu deiner Berufswahl?

Ich habe nicht den Eindruck, dass ich mich dafür „entschieden“ habe, das Leben hat das Thema in mein Leben gebracht.

Gibt es ein besonders Anliegen, das du hast, eine Art inneren Auftrag, der dich motiviert zu diesem schweren Beruf?

Ich empfinde es eigentlich nicht als „schweren“ Beruf.

Als Hebamme ist es mir ein Anliegen, dass alle Familienmitglieder aus der Erfahrung von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett gesund und gestärkt hervorgehen. Dies gilt auch, und ganz besonders, wenn das Baby nicht oder nicht mehr lebt. Durch meine Art der Begleitung durch die erste Phase des Abschiedsprozesses möchte ich dazu beitragen dass die Beteiligten gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgehen und gut durch ihr weiteres Leben gehen können. Dabei denke ich auch an Geschwisterkinder, die eventuell erst später geboren werden.

Erzähle uns ein Erlebnis, von dem du viel gelernt hast.

Ich erinnere mich an eine Frau, die sich erst vier Wochen nach einer Totgeburt meldete und sich um die Bestattung ihres Kindes kümmern wollte. Ihre Familie meinte, sie solle diese Erfahrung einfach vergessen und so zu tun, als hätte es dieses Kind nicht gegeben. Sie hat versucht diesem Rat zu folgen. Aber es hat nicht funktioniert. Beim Erstgespräch sagte ich ihr, dass dieses Kind sie zur Mutter gemacht hat, auch wenn es noch so klein war und so früh tot geboren wurde. Und dass es immer ihr erstes Kind bleiben wird. Und wenn sie wieder schwanger wird, bekommt das tote Kind ein Geschwisterchen. Sie war zunächst verwundert, schien dann aber sehr erleichtert. Wir haben uns dann gemeinsam um das Baby gekümmert. Zur Beerdigung kam auch ihr Partner mit, der zuvor der Meinung war, es sei besser, sich das alles zu ersparen. Im Nachhinein hat sie sich ganz besonders bei mir für die Begleitung bedankt, und war sehr zufrieden, dass dies alles so möglich war.

Du bestattest häufig Babys und Kinder. Wie gehst du damit um?

Ich bestatte nur Babys. Was mir dabei hilft, ist das Wissen: Es gibt keinen Trost. Das entlastet, und ich kann mich darauf konzentrieren, die Menschen auf ihrem Weg zu begleiten.

Achtsamkeit hilft mir, mit dem zu sein was ist: Das, was geschehen ist, anerkennen und dabei wohlwollend und freundlich mit mir und den anderen umgehen, ohne etwas beweisen oder mich anstrengen zu müssen. Ich lasse mich berühren, behalte aber den Boden unter den Füßen und bleibe mit mir selbst in Kontakt. So kann ich in Resonanz gehen und gleichzeitig mit kühlem Kopf den Überblick behalten. Das hilft mir dabei den Schmerz und die Trauer um dieses Kind bei den Menschen zu lassen, die es verloren haben. Ich habe großen Respekt vor dem Schicksal dieser Menschen und traue ihnen zu, ihr Leben mit diesem Schicksal zu leben. Mit einer solchen Haltung des Mitgefühls bleibe ich in meiner Kraft und auch diese Menschen bleiben in ihrer Kraft (während Mit-leiden mich selbst und auch mein Gegenüber schwächen würde).

Wenn es keine Worte gibt, hilft schweigen und gemeinsam in Stille zu sein.

Schließlich hilft mir auch eine Haltung der Dankbarkeit. Es ist ein Geschenk für mich, Menschen in solch einer intensiven Lebenssituation begleiten zu dürfen. Und ich freue mich besonders, wenn ich sie als Hebamme begleiten darf, wenn wieder ein Kind unterwegs ist.

Hast du einen Rat für Eltern, die ihr Kind verloren haben?

Sich trauen, möglichst viel selbst zu tun. Sich Zeit lassen. Es fällt leichter, den Abschied in mehreren Schritten zugehen. Einen Schritt nach dem anderen tun und dabei die ganz eigene Art und Weise finden. Es tut gut, noch etwas für das Kind tun zu können (dem Kind einen Brief schreiben, eine Kerze gestalten, Ideen entwickeln, was sie ihrem Baby mitgeben und wie sie es verabschieden möchten).

Im Lauf der Zeit nicht nur den Verlust des Kindes sehen, auch wenn das Kind natürlich weiterhin fehlen wird. Versuchen mehr und mehr das Geschenk zu entdecken, das dieses Kind gebracht hat und das ohne dieses Kind nicht ins Leben gekommen wäre.

Worauf legst du in der Begleitung von trauernden Angehörigen besonderen Wert?

Ich sehe meine Aufgabe darin, die Familie durch diesen Prozess zu begleiten, und dabei den Menschen zu helfen, Schritt für Schritt ihren eigenen Weg zu finden. Ich ermutige sie, möglichst viel selbst zu tun und bin dabei an ihrer Seite. Es ist mir wichtig, ihnen zu vermitteln, dass sie nichts müssen. Ich kümmere mich liebevoll um ihr Kind und tue, was zu tun ist, wenn sie sich dazu nicht in der Lage fühlen. Aber ich lade sie immer ein, dabei zu sein.

Fast alle Eltern, die wir begleiten, versorgen ihr Kind selbst, nehmen es vielleicht noch einmal in den Arm, ziehen es an oder hüllen es in ein Tuch. Sie betten es in den Sarg, den sie häufig selbst gestaltet haben, und bereiten so ihrem Baby liebevoll ein letztes Bettchen. Meist kommen sie zögerlich und ängstlich. Wenn sie gehen, machen sie einen völlig veränderten Eindruck, sie gehen in tiefer Trauer, aber zufrieden und gestärkt. Das Einbetten ist ein wesentlicher Schritt. Jede Familie findet ihre ganz eigene Art und Weise. Ich weiß im Voraus nie, wie es sich gestalten wird.

In den Tagen danach entwickeln sie Ideen für die Trauerfeier und die Bestattung. Manche sind letztendlich selbst erstaunt, was in einem gemeinsamen kreativen Prozess daraus geworden ist. Später können diese Erinnerungen zu einer Kraftquelle werden.

Sind ältere Geschwister da, beziehen wir sie mit ein. Denn wir fragen uns – und auch die Eltern, wenn sie danach fragen – welche Vorstellungen und Gedanken ein Kind sich wohl macht, wenn es nicht dabei sein darf? Kleinere Kinder gehen erfahrungsgemäß unvorbelastet und mit kindlicher Neugier in die Situation.

Gibt es einen Satz, eine Weisheit oder irgendetwas Persönliches, was du unseren Usern mitteilen möchtest?

Drei Gedanken:

Die Trauer ist so tief, wie die Liebe groß ist.

Trauer wird nur leichter, indem man trauert.

Die geweinten Tränen sind nicht das Problem, sondern die ungeweinten.
Wir danken dir für dieses Gespräch.


Kurz-Biographie

Dr. Clarissa Schwarz ist Hebamme und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie hat 24 Jahre Erfahrung als Hebamme. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und eines Sternenkindes. 13 Jahre war sie an Hochschulen beschäftigt, zuletzt war sie als Professorin für den ersten grundständigen Hebammenstudiengang in Deutschland zuständig. Seit 2013 ist sie wieder in Berlin tätig als Hebamme, Bestatterin und Achtsamkeitslehrerin.

www.clarissa-schwarz.de

 

Lisa Freund
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